Einigkeit und Recht und Freiheit
Ge. Im März vor zwei Jahren hat sich die Bundesregierung mit dem Inkraftsetzen des „Übereinkommen über die Rechte der Menschen mit Behinderungen“ der UN dazu bekannt, mit einem inklusiven Bildungssystem die Chancengleichheit auch für behinderte Menschen zu garantieren. Die Umsetzung wird nun auch für Gelsenkirchen geplant.
Von Harald Gerhäußer
Mit dem Thema „Inklusion“ setzten sich am Freitag (1.) rund 100 Pädagogen, Schulleiter, Mitglieder von Förderkreisen, Schüler und Berater der entscheidungsbefähigten Regierungsgremien im Wissenschaftspark Gelsenkirchen auseinander.
Mit dem Bekenntnis der Bundesregierung zur UN-Konvention steht der Bundesrepublik eine derart massive Umstrukturierungsmaßnahme der Bildungslandschaft bevor, dass man Oberbürgermeister Frank Baranowski nur recht geben kann, der zu Beginn seiner Begrüßungsrede befürchtete, manche der Konferenzteilnehmer würden die Einladung aufgrund des Themas für einen Aprilscherz gehalten haben.
Das UN-Übereinkommen sieht vor, dass behinderte Menschen in unserer Gesellschaft gleichberechtigt werden müssen. Nach Artikel 24 des Übereinkommens müssen sie „gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft, in der sie leben, Zugang zu einem integrativen, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen haben.“
Das bedeutet, jede Schule muss dem Behinderten ebenso offenstehen wie jedem anderen Schüler. Dies betrifft nicht nur die barrierefreien Schulgebäude, sondern auch einen Schulunterricht, der die Schwächen von gehandicapten Schülern aufzufangen vermag, während er zeitgleich die hochbegabten Schüler bei Laune halten muss. Diesen Spagat gilt es in Zukunft auch in den Klassenzimmern Gelsenkirchens hinzubekommen. Denn die Landesregierung hat am 1. Dezember 2010 einen Antrag verabschiedet, der die Basis für die Umsetzung eines inklusiven Schulsystems in NRW sein soll.
Trotz der Bejahung der Gerechtigkeit für ausnahmslos jeden Menschen werden im Kontext der Inklusionsdebatte schnell Fragen laut: Ist diese Umstrukturierung wirklich gerecht? Bringt der zusätzliche Konkurrenzkampf dem Behinderten etwas außer Frust? Und wie gerecht ist ein Schulunterricht mit einem solch breiten Zielpublikum? Wie gerecht ist dieses Schulsystem gegenüber denjenigen Schülern, die durchschnittlich begabt sind. Sollte es für die nicht auch eine Förderung geben, wenn es eine für hochbegabte und eine für gehandicapte Schüler gibt?
Man macht sich wahrscheinlich schnell unbeliebt, wenn man Fragen der sozialen Gleichheit kritisch beäugt. Doch ein Strukturwandel der Bildungslandschaft in Deutschland kommt an Kontroversen nicht vorbei.
Anders verhält es sich für die in den Wissenschaftspark geladenen Experten. Dort schien das Thema keine Kontroversen auszulösen: Zwischen Heidemarie Goßmann, Regierungsschuldirektorin, Prof. Dr. Klaus Klemm, Bildungsforscher, Manfred Beck, Vorstand der Lenkungsgruppe Regionales Bildungsnetzwerk, Holle Weiß, stellv. Betriebsleiterin der GeKita, Bernhard Südholt vom Schulamt Gelsenkirchen sowie Reinhard Lipka vom Integrationscenter für Arbeit, die sich auf dem Podium dem Thema stellten, herrschte Einklang über die Notwendigkeit eines inklusiven Schulsystems.
Zur Diskussion kam es letztlich erst, als das Fachpublikum zu Wort gebeten wurde, welches das Meinungsspektrum erweiterte. Johannes Kaiser, leitender Regierungsschuldirektor in Münster, begann die bisherigen Diskussionsergebnisse zu kritisieren, indem er die den Gymnasien vorgeworfene Verweigerungshaltung in Frage stellte. Viele Gymnasien und Realschulen würden sich an der Inklusionsdebatte beteiligen. Aber es sei auch verständlich, dass diejenige Schulform, die am meisten verändert werden wird, sich auch am Kritischsten zeige, so Kaiser. Daraufhin äußerte sich der emeritierte Prof. Klaus Klemm und beschwichtigte, dass es nicht um eine Generalschelte für die Gymnasien ginge, sondern um Gerechtigkeit. Gerechtigkeit sei auch nicht gegeben, wenn Grundschüler mit einem Notendurschnitt zwischen drei und vier, das Gymnasium nicht besuchen dürften, wohingegen die gehandicapten Schüler freien Einzug auf das Gymnasium erhielten, so Klemm.
Daraufhin berichtete Georg Altenkamp, der Schulleiter der Gesamtschule Berger Feld, von den Erfolgen der letzen vier Jahre. Die Schule bietet Integrationsklassen an, in denen sieben Kinder von 24 besonderer Förderung bedürfen. „Die integrative Arbeit mit den Schülern ist ein ganz großer Gewinn und die sozialen Entwicklungsprozesse treiben einem Pädagogen Tränen in die Augen“, zog Altenkamp Bilanz.
Auch die beiden anwesenden Schüler der Focus-Schule mit Förderschwerpunkt Sehen begrüßen die Diskussion um die Eingliederung der Menschen mit Behinderung anstatt deren Sonderbehandlung. Es sei schwierig gewesen, im Grundschulalter von den Freunden gefragt zu werden, warum man jetzt auf eine andere Schule ginge. Und man mit dem Stempel Sonderschule sich schon ausgesondert gefühlt habe, sagt Kerem Yazici. Sein Mitstreiter von der Focus-Schule zeigt sich kritischer gegenüber den Inklusionsmaßnahmen: Bevor es zu einem inklusiven Bildungssystem komme, müssen die Schüler an den Regelschulen auf die Menschen mit einer Behinderung vorbereitet werden. Die Schüler der Klassen sollten erfahren, was für Erkrankungen oder Behinderungen die neuen Mitschüler haben. Und dieses Wissen müsse helfen, die gehandicapten Schüler vor Hänseleien zu schützen.
Wie jede große Veränderung bringt auch das angestrebte inklusive Bildungssystem in NRW Ängste und Sorgen bei den Beteiligten hervor. Die Betroffenen müssen das Thema gedanklich erst verinnerlichen, bevor Vorurteile und Sorgen ausgeräumt werden. Das zeigte sich auch während der Diskussionsrunde im Wissenschaftspark. Dort waren zwar überwiegend Pädagogen versammelt, die mit dem Thema Gleichberechtigung im Schulsystem vertraut sein sollten. Aber dennoch kam es jedes Mal zu Szenenapplaus, wenn einer der sehbehinderten Schüler aus seinem Leben erzählte. Das kann man Respekt nennen. Das kann man als Kuschelpädagogik bezeichnen. Eines kann man davon nicht sagen. Und zwar, dass hier zwei sehbehinderten Menschen, die rhetorisch besser qualifiziert waren als manch einer der Akademiker, gleichberechtigt behandelt wurden.
In der Debatte ist wichtig, dass der Schwächere nicht zu der Inklusion gezwungen wird, sondern frei wählen kann. Denn zu dem Recht auf Gleichberechtigung gehört auch die Wahlfreiheit. Dafür wurde allerdings schon in dem Gesetzesantrag des Landes NRW vom Dezember 2010 Sorge getragen: Der Antrag sieht vor, dass jeder Behinderte auf eine Regelschule gehen können muss, weiterhin aber auch eine Förderschule wählen darf, wenn die Eltern und der Schüler das möchten.
Wenn dieses Ziel erreicht würde, dann würde Einigkeit und Recht und Freiheit in deutschen Schulen herrschen!
Autor:Harald Gerhäußer aus Bochum |
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