Ein streitbarer Politiker

„Vieles von dem, was die Leute nervt, ist richtig,“ erklärte 
Sigmar Gabriel in Gelsenkirchen. Foto: Gerd Kaemper
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    Sigmar Gabriel in Gelsenkirchen. Foto: Gerd Kaemper
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Sigmar Gabriel will Wählern und Genossen nicht nach dem Mund reden. Der Vizekanzler und SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel verbrachte einen Tag in NRW, informierte sich dabei über den Stand der Renaturierung der Emscher und stellte sich im Gelsenkirchener Wissenschaftspark einem Townhall-Meeting. Dabei durften nach amerikanischem Vorbild die Besucher ihre Fragen zum Thema „Deine Stimme für Vernunft“ stellen.

Kampagne führt den Vizekanzler auch nach Gelsenkirchen

Unter diesem Thema hat die SPD eine bundesweite Kampagne gegen rechtspopulistische und rechtsextreme Hetze gestartet. Mit der Kampagne will sie eine zunehmende Spaltung unseres Landes verhindern und für mehr Zusammenhalt mobilisieren.
Nach einem Gang über die Bochumer Straße, bei dem dem Vizekanzler und Wirtschaftsminister die Problematik des Stadtumbaus West hautnah vor Augen geführt wurde, empfingen rund 200 Besucher das SPD-Oberhaupt in den Arkaden des Wissenschaftsparks. Zu dem Zeitpunkt dürften die Eindrücke von der Bochumer Straße noch frisch gewesen sein und der Politiker im Gedächtnis haben, vor welchen Herausforderungen eine Stadt wie Gelsenkirchen steht. Und das dürfte ihn auch gewappnet haben, für die Fragen, die ihn erwarteten.

"Die Weisheit nicht mit Löffeln gefressen"

Die SPD-Unterbezirksvorsitzende und Landtagsabgeordnete Heike Gebhard stellte Sigmar Gabriel vor, als Mann, „der bekannt dafür ist, dass er sich allen Fragen stellt. Und auch wenn ihm und uns allen klar ist, dass die SPD die Weisheit nicht mit Löffeln gefressen hat, so ist Sigmar auf jeden Fall einer, der nach Lösungen sucht.“ Und der so Angesprochene sollte ihr im Verlaufe des Abends recht geben.
Der Vizekanzler zeigte sich beeindruckt von dem, was er auf der Bochumer Straße erlebt hatte: „Die Straße bietet einen Querschnitt durch die Gesellschaft. Da gibt es Firmengründer mit Migrationshintergrund, kreative Köpfe, die sich genau dort niederlassen und dann wieder Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen.“

Lob für den Gelsenkirchener Weg in Sachen Schrottimmobilien

Im Laufe des Abends machte er deutlich, dass er das, was die Stadt Gelsenkirchen an der Bochumer Straße plant nicht nur gutheißt, sondern nach Kräften unterstützen möchte. Denn Gabriel ist sich sicher, dass hier wie an anderen Orten von denen es in Deutschland seiner Ansicht nach aber nur zehn bis zwölf gibt, wichtig ist, dass die Stadt und ihre Bürger einzelne Stadtteile nicht aufgeben und zum Ghetto werden lassen.
„Es ist schade, wenn Häuser abgerissen werden müssen. Aber wenn es sich dabei um Schrottimmobilien handelt, wird mir der nordrhein-westfälische Bauminister Michael Groschek zustimmen, dass es nötig ist. Nur so kann man vernünftige Mieter in die Quartiere holen und diese damit aufwerten statt sie abzuschreiben“, unterstützte Gabriel die Stadtumbaumaßnahmen der Stadt Gelsenkirchen.

Im Gespräch mit Bauarbeitern an der Emscher

Und ein solches Handeln kann seiner Ansicht nach auch etwas in den Köpfen der Bürger bewirken, denn er hatte sich bei seinem Besuch der Emscher-Baustelle auch mit Bauarbeitern unterhalten, die ihm ihre Sorgen schilderten und damit ziemlich genau den Nerv trafen, der die Gesellschaft derzeit plagt.
Einer der Facharbeiter stammte aus Thüringen und erklärte, dass es in der DDR besser gewesen wäre, da sind die Gastarbeiter wieder in ihre Heimatländer zurück gegangen. Wenn es nach ihm ginge, würde er mit einer Pumpgun auf Flüchtlinge los gehen, weil die hier lebenden Türken mehr zu sagen hätten als die „Deutschen“. Der westdeutsche Arbeiter kritisierte, dass die SPD der Kanzlerin Merkel zu viel nachgeben würde in Sachen Flüchtlingen. Und dann gab es da noch den Österreicher, der sich hier sehr wohl fühlt. Gabriel schilderte, dass es ihm gelang bei den westdeutschen Bürgern auf Verständnis zu stoßen für das Handeln der Regierung in Sachen Flüchtlingen, der Thüringer beharrte auf seiner Meinung.

Die innere Sicherheit gewährleisten

„Michael Groschek hat mir gesagt, die Menschen wollen, dass die Dinge wieder in Ordnung sind. Sie verstehen nicht, dass Millarden da sind, wenn es um Banken geht, aber das Geld fehlt um eine Schule um die Ecke zu modernisieren. Und er hat recht, das sehe ich genau so. Darum ist es wichtig, die innere Sicherheit zu gewährleisten, aber durch die Polizei und nicht die Bundeswehr“, erklärte Gabriel.

Eine Frage weckt das Interesse des Politikers

Die erste Frage der Besucher kam von einem Albaner, der mit seiner Familie in Deutschland lebt. Seine Schwester ist hier geboren, hat jetzt ihr Abitur gemacht und möchte studieren. Während die junge Frau bisher ein Bleiberecht hatte, wie der Rest der Familie, wurde ihr nun nur noch eine Duldung gewährt. Gabriel erinnerte an das Ausländergesetz und daran, dass es nicht automatisch ein Bleiberecht gibt, wenn im Herkunftsland kein Bürgerkrieg oder Krieg herrscht. Doch der Fall der jungen Frau stieß auf sein Unverständnis und so bat er darum, dass der Bruder ihm die Einzelheiten später noch einmal konkretisieren möge. Auf dieses Angebot kam er am Ende der Veranstaltung noch einmal zurück und widmete sich der Angelegenheit.

Dinge wahrnehmen und klären sind Gabriels Ding

Ebenso versprach er dem Problem einer Frau nachzugehen, die nach 45 Beschäftigungsjahren erwerbsunfähig ist, aber nur ein Drittel der Erwerbsunfähigkeitsrente erhält. „Das müssen wir mitnehmen und klären. Ich kann nicht glauben, dass das richtig gelaufen ist“, erklärte der Wirtschaftsminister.
Eine Besucherin kritisierte, dass sie sich in ihrem Arbeitsleben „kaputt malocht hat“ und jetzt für eine vernünftige Rente beim Amt „Bitte-Bitte“ machen müsse. „Wer gearbeitet hat, muss deutlich mehr Geld haben, als der, der nicht gearbeitet hat“, verkündete Gabriel, was aus dem Publikum mit dem Ruf quittiert wurde: „Lass Dich scheiden, dann hast Du mehr!“ Darauf erklärte der Vizekanzler mit einem Schmunzeln: „Wenn der Alte nicht zahlt, biste aber gelackmeiert!“
Stattdessen setzen er und Arbeitsministerin Andrea Nahles sich lieber für das Gesetz der Mindestrente ein. Nicht zuletzt darum, „damit ich in einem Jahr wiederkommen und verkünden kann, dass wir es geschafft haben," verspricht Gabriel.
In Sachen überbetrieblicher Mitbestimmung erklärte der SPD-Chef: „Die Arbeitnehmervertreter in Aufsichtsräten sollten mal bei den Gehältern der Vorstände anders abstimmen.“

Beim Streitpunkt Ceta lässt Gabriel sich nicht reinreden

Das Freihandelsabkommen Ceta mit Kanada erklärte Sigmar Gabriel als einen Quantensprung in Sachen Freihandelsabkommen. TTiP hingegen erteilte er eine Abfuhr. Die anwesenden Gewerkschafter kritisierten Gabriels Einschätzung von Ceta aufs heftigste und der Vizekanzler nutzte die Gelegenheit, „sich mit ihnen zu reiben, denn Reibung erzeugt Wärme, wie Franz Müntefering sagt.“
Dabei gab er den Gewerkschaftern recht, dass ihre öffentlichen Debatten den mit dem Freihandelsabkommen Beschäftigten viele gute Hinweise auf Fallstricke und mögliche Gefahren gebracht hätten. Doch er forderte auch eine Einsicht, weil er sicher ist, dass es das beste Abkommen, nämlich ein Welthandelsabkommen nicht geben wird. „Kein Abkommen wird zu 100 Prozent gut sein, aber Ceta wäre ein sehr guter Kompromiss“, erklärte Gabriel.

Ein dickes Lob für den Bundesfinanzminister

In Sachen Erbschaftssteuer sieht er den Bundesfinanzminister derzeit auf einem guten Weg, den er ihm so gar nicht zugetraut hätte: „Schäuble geht dabei einen sehr charmanten Weg, mit dem er auch in seinen eigenen Parteireihen auf Kritik stößt, das stört ihn aber nicht. Denn er fordert, wer selbst über eigenes Kapital verfügt, der sollte auch entsprechende Erbschaftssteuer zahlen.“
Dafür sollte der Spitzensteuersatz nicht bereits bei den Einkommen eines Meisters oder Facharbeiters greifen, sondern vielmehr bei denen, die wirklich viel verdienen und davon auch mehr abgeben können, befand der Minister.

Das Motto zur Bundestagswahl lautet "Gewinnen!"

Doch er will auf keinen Fall das Thema Steuern in den Bundestagswahlkampf einziehen lassen. „Wir sollten uns nicht in abstrakten Themen verstricken, sondern konkrete Themen aufgreifen.“ Nach dem Motto zur Bundestagswahl 2017 gefragt, antwortete Sigmar Gabriel spontan: „Gewinnen!“
Eine Koalition mit der Linken schloss Gabriel nicht aus, wenn die Linke sich entscheiden würde, was sie will: Regieren oder SPD-Hasser sein. Denn in diese beiden Lager sieht er die Partei verstrickt. „Ich würde das Land nie in eine unsichere Regierung führen, nur um einen Sozialdemokraten im Kanzleramt zu haben. Eine unsichere Regierung hätte gigantische Konsequenzen für Europa“, befürchtet der SPD-Chef.

Die Welt gerät aus den Fugen: Deutsch-Türken liebäugeln mit der AfD

Eine Frau mit Migrationshintergrund stellte zur Diskussion, dass viele in ihrem Freundeskreis, darunter auch Deutsch-Türken, bei der nächsten Wahl die AfD wählen wollen. Gabriel antwortete zunächst flapsig, dass sie ihren Freundeskreis überdenken solle, gab aber zu, dass das nicht fair war und wurde ernst. „Es gibt zwei Typen von AfD-Wählern: die Frust-Wähler und die alten deutsch-nationalen Reaktionären. Die haben eine ganz andere Vorstellung von Frauenrechten und Ausländerpolitik. Sie vergessen, dass wir ein Grundgesetz haben und es darin in Artikel 1 heißt: Die Würde des Menschen ist unantastbar und nicht die Würde des Deutschen!“
Und hier kam er wieder zurück zur Bochumer Straße und gestand, dass die Politik einfach zu lange weggesehen hat: „Überall dort, wo die Großindustrie Stahlwerke oder Zechen geschlossen hat, gibt es billigen Wohnraum und der lockt zu viele problematische Mieter an. Das bewirkt, dass die vernünftigen Leute wegziehen und so einem Ghetto Platz machen. Darum läuft es in Gelsenkirchen richtig, wenn Schrotthäuser gekauft, entmietet und abgerissen werden. Dafür braucht es Geld vom Bund. Wenn dann noch die digitale Infrastruktur vorangetrieben wird, zieht es schon bald junge motivierte Unternehmen in solche Viertel.“

Solidarpakt nicht nach Himmelsrichtung, sondern nach Not

Er stellte in Aussicht, dass dazu die Mittel des Solidarpakts genutzt werden könnten, wenn der Solidarpakt Ost 2019 ausläuft. Ein Licht am Ende des Tunnels? Auch bei einem albanischen Brautmodehändler legte Gabriel einen Zwischenstopp ein, um ein Gespräch zu führen. Ansonsten besichtigte er auch die Ausstellung "Global Art Paper" in der alten Kutschenwerkstatt, die zur Kulturstätte mutiert.

Autor:

silke sobotta aus Gelsenkirchen

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