Ückendorfer Vergangenheit und Gegenwart zusammengefügt
Ein früher Sonntagnachmittag, Anfang der 60-er Jahre, im Gelsenkirchener Stadtteil Ückendorf: Ein kurzbehoster Halbwüchsiger sitzt auf einer Treppe. Der kurzen Lederhose mit ihren kunstledernen Trägern ist er innerlich bereits entwachsen, Pubertät und nahendes Erwachsenwerden sprechen aus dem betont gelangweilten Ausdruck. Doch dies ist immer noch ein wichtiger Teil seiner Kindheit, die sich hier vor und im REX-Kino nahe dem südlichsten Punkt seines Stadtteils abspielt: Zum Sonntag zählt damals ganz unverzichtbar der nachmittägliche Besuch einer „Kindervorstellung“ in einem der örtlichen Kinos: Die Vorfreude ist riesig, und schon bald nach dem Mittagessen macht sich der Junge auf den Weg, ist zumeist als Erster an der Eingangstür, um sich einen Platz in der Mitte der ersten Reihe zu sichern. Für fünfzig Pfennige gibt es dann einen „Vorfilm“, eine veraltete Wochenschau, etliche verkratzte Werbedias und schließlich einen lustigen und/oder spannenden, auf jeden Fall aufregenden Film jener Tage zu erleben - große, bewegte und meist technicolorbunte Bilder, die in der folgenden grauen Alltagswoche das Kopfkino füllten und die Fantasie belebten.
Im August 2012 gab es für den kleinen Kinofan von einst anlässlich der 50. Wiederkehr seiner Entlassung aus der (längst abgerissenen) Katholischen Alten Schule in Ückendorf ein Klassentreffen in einem Restaurant an der Ückendorfer Straße. Neben dem anrührenden Wiedersehen mit alten Schulkameraden gab es gleichzeitig auch eine überraschende und bewegende Wiederbegegnung mit jenem Kino aus Kindheitstagen, denn das ehemalige Lichtspielhaus fügt sich damals wie heute baulich an das Restaurant an.
Und da stehen sie sich also ganz plötzlich gegenüber - die frühere Stätte bunter Kindheitsträume und der Junge der 60-er Jahre: Beide sind ein halbes Jahrhundert älter geworden, und die vergangene Zeit hat vieles verändert: Das Kino hat seine großen Zeiten lange hinter sich, hier wird kein Film mehr gezeigt. Fassade und Eingang, die äußere Baulichkeit blieben jedoch nahezu verändert, nur die Mauern sind grau geworden wie der ältere Mann, der sie gerührt und wehmütig betrachtet. Und er erinnert sich dankbar an den Trost und die Verheißung, die das Kino dem Heranwachsenden vor fünfzig Jahren zu spenden wusste, ist froh, dass es die äußere Hülle des Lichtspieltheaters noch gibt, erkennt zugleich schmerzlich, dass dessen Tage wohl gezählt sind, und so erscheint es ihm als eine Art Memento mori.
Das Gemälde spiegelt diese Wiederbegegnung mit einer mir wichtigen Stätte meiner Kindheit wider, schildert zugleich das im Heute und vor Ort erlebte tiefe Gefühl von Vergangenheit und Vergänglichkeit. Das alte Kino in seinem heutzutage bemitleidenswerten Zustand rief eine eigenartige Mischung aus Trauer, Trost und Zuversicht hervor, ließ aber auch das erlebte Glück der Kindheit wieder überaus lebendig werden. Deshalb findet sich auf diesem Bild das Kind aus der Vergangenheit wieder ein, nimmt Platz auf den Eingangsstufen, während hinter ihm das Kino und die Zeit längst bis in die Gegenwart vorangeschritten sind.
„Verheißung IV: Das REX-Kino“
(Gemälde von Wolfgang Moritz, 70 x 50 cm, Öl auf Leinwand, 2012)
Autor:Wolfgang Moritz aus Gelsenkirchen |
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