Rezension zu: „Dement, aber nicht bescheuert“, Michael Schmieder/ Uschi Entenmann (ullstein)
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- hochgeladen von Tanja Geyer
Ich arbeite selber im Bereich der Betreuung demenzkranker Bewohner, daher bin ich immer an neuen Sichtweisen interessiert, die mich mein Denken und Handeln anders sehen und bewerten, sowie ggf. umstrukturieren lassen. Mit diesem Buch ist das durchaus gelungen, denn es ist ein Plädoyer für ein menschenwürdiges Altern und ein Umdenken in der Pflege/Betreuung.
Vieles ist nicht nur für den beruflichen Bereich geschrieben, auch wenn es zum Teil um die Alzheimerforschung und ihre Entwicklung, sowie um die Arbeit des Pflegepersonals geht. Es thematisiert ebenso Probleme, die die Angehörigen betreffen. Sie haben auf Grund der veränderten Lebensumstände oft eine große Last zu tragen, müssen viel Verständnis zeigen und den einst vertrauten Angehörigen neu kennen- und annehmen lernen, was durchaus zur Mammutaufgabe werden kann.
„Wenn es um Nächstenliebe geht, braucht es kein Diplom, keinen Master in Soziologie oder gar Theologie.Der Wille, sein Herz in die Wagschale zu werfen, genügt.“ (S. 220)
Hr. Schmieder übernahm 1985 das Haus Sonnweid in der Schweiz, und schreibt über die Veränderungen, die er im Laufe der Zeit dort durchgesetzt hat.
Was anfangs etwas nach Selbstbeweihräucherung aussieht, ist in Wirklichkeit die überaus plausible Konsequenz, einer bis dato schlechten Pflege/Betreuung mit Abschiebemanier entgegen zu wirken. Die Arbeit in Sonnweid wird im Folgenden anhand von Fallbeispielen sehr anschaulich beschrieben. Dabei wird immer wieder Wert darauf gelegt, dass hier das Individualkonzept greift und nicht nach allgemein verfassten Richtlinien gehandelt wird. Es war wirklich interessant zu lesen, wie die Lösungsstrategien erarbeitet und umgesetzt wurden. Immer unter ethischen Gesichtspunkten, immer menschlich und ausnahmslos bewohnerorientiert, ohne dabei die Bedürfnisse der Angestellten aus dem Auge zu verlieren. Vorbildhaft…
Auch wenn man manchmal den Eindruck haben könnte, dass andere Einrichtungen der Altenpflege hier abgekanzelt werden, so ist der erhobene Zeigefinger eher eine Seltenheit. Vorherrschender ist die leichte Resignation, dass manches in Deutschland nicht oder nur schlecht umsetzbar ist. Das dürfte zum Teil an den Richtlinien des MDK liegen, die in diesem Buch nur als Randerscheinung erwähnt wurden, ebenso aber auch an Hygienerichtlinien und anderen Barrieren. Hinzu kommt aber entscheidend das, was im letzten Kapitel angesprochen wurde: Profitorientierung. Zu viele Heime werden von privaten Investoren geführt.
Die Autoren sprachen mir mit vielen Sätzen aus der Seele. Nicht nur, aber auch was die Pflege betrifft. Es geht z.B. um Ruhe im Umgang untereinander, das richtige Maß an Anregung für die Bewohner und den Stellenschlüssel in Deutschland. Besonders letzterer ist es, der gute Pflege und Betreuung oft verhindert.
Unzureichend angesprochen wurde die Finanzierung. Eine Einrichtung wie Sonnweid ist teurer als andere Pflegeeinrichtungen, wenn man die Leistungen in vollem Maße in Anspruch nehmen möchte. Das erklärt sich allerdings nahezu von selbst, und es bleibt die Frage, was uns ein menschenwürdiges Altern wert ist bzw. wert sein sollte, und ob hier ein grundlegendes Umdenken, auch von Seiten der Politik, notwendig wäre.
Dieses Buch zeigt am Beispiel der Demenzeinrichtung Sonnweid auf, wie ein menschenwürdiges Altern gestaltet werden kann. Stärken stärken, Schwächen schwächen und den Menschen so annehmen wie er ist. Ein Vorbild, dem man nacheifern sollte.
Autor:Tanja Geyer aus Gelsenkirchen |
4 Kommentare
ja, GUTE (wichtige) REZI´zu einem vermutlich "wichtigen" Buch!
Danke für den Tipp!
Danke ihr Zwei!
@ Thorsten: Deine Frage lässt sich leider nicht pauschal beantworten.
Es ist so, dass es in Deutschland einige Heime gibt, die nach dem Sonnweid-Vorbild errichtet wurden und auch das selbe oder zumindest ein ähnliches Konzept verfolgen. Mehr war dazu leider nicht zu lesen, und ich war bei meiner Recherche dazu auch wenig erfolgreich.
Fakt scheint aber, so wird es im Buch geschrieben, dass diese Heime mit erheblichen bürokratischen Hürden (neben der schwierigen Finanzierung) zu kämpfen hatten/haben.
Meines Erachtens nach geht der Ball somit zurück an die Polizik und Träger. Es gibt natürlich diverse Ansätze, die sich sehr gut umsetzen ließen, aber das scheitert hier in Deutschland z.B. schon am Personal, ergo an Stellenschlüssel und Finanzierung. Wenn ich mich recht erinnere, dann wurde von einem Stellenschlüssel von 1:3 gesprochen, wo er bei uns in der Regel 1:6 oder niedriger liegt. Auch ist das Personal in der Schweiz besser ausgebildet, wobei das eher kein Problem sein sollte. Weiterbildungen kann man immer besuchen. Abgesehen davon dürfte es auch diverse Hygienehürden geben. In Sonnweid leben z.B. Haustiere und es wird auf den Wohnbereichen individuell gekocht.
Leider habe ich das Buch schon weitergereicht, sonst hätte ich es dir überlassen. Lesenswert ist es auf jeden Fall!
Danke für die ausführliche Antwort, Tanja. Manchmal kann man die Schweizer ja doch beneiden! :)