Lebensmittel Brake, Ecke Schillstraße/Lützowstraße, Ückendorf
Wie ungern ging ich immer dorthin: Es waren zwar nur ein paar Schritte über die Straße, denn das Eckhaus Schillstraße/Lützowstraße lag direkt unserer Wohnung gegenüber, aber es gab fast immer Ärger mit meiner Mutter, die mich regelmäßig dorthin schickte: Ich war dann stets unwillig, hatte keine Lust, in diesem Lebensmittelladen etwas zu einzukaufen. Dem kleinen Wolfgang der 50-er pflegte sie kleine Zettelchen, auf dem das zu Besorgende notiert war, mitzugeben, die dort über die Theke zu reichen waren. Später hatte ich mir ihre Wünsche zu merken und im Laden mündlich vorzutragen. Beides war lästig, kostete Zeit und war mir auch aus anderen Gründen immer unangenehm.
Lebensmittel Brake war noch ein echter Tante-Emma-Laden alten Zuschnitts, in dem man nichts selber aus dem Regal nehmen konnte, sondern alles einzeln verlangen musste und auf die Theke gelegt bekam. So zog sich auch der kleinste Einkauf hin, denn die Erwachsenen drängten den Kleinen nach hinten, führten ausgiebige Gespräche und hatten dabei alle Zeit der Welt. Kam man schließlich an die Reihe, hatte es gefälligst schnell zu gehen.
Dabei waren die beiden älteren Damen hinter der Theke immer sehr behende bei der Sache, beherrschten ihr kleines Lebensmittelreich flink und perfekt. Hier gab es keine Registrierkasse, sondern ihnen genügte ein Bleistift und ein schmales Blöckchen, auf dem sie die einzelnen Beträge blitzschnell zusammenrechneten.
Gang und gäbe war es, hier manchmal „auf langen Bleistift“ einzukaufen, wenn das Geld am Monatsende knapp wurde. Dann wurde der schuldige Betrag stillschweigend in ein abgegriffenes Heft eingetragen.
Die Öffnungszeiten der Geschäfte waren in jenen Tagen streng reguliert und genauso streng einzuhalten: Dennoch wusste jeder, dass man bei den Brakes fast zu jeder Tageszeit und vor allem am Samstagnachmittag oder am Sonntag „hintenrum“ immer noch etwas bekam: Zu diesen Zeiten an deren Hintertür - in der Gasse rechterhand gelegen - klingeln zu müssen, war mir stets außerordentlich peinlich, die geschäftstüchtigen Damen indes sahen aber wohl gerne darüber hinweg.
Heute ist der frühere Geschäftseingang an der abgeschrägten Hausecke Schillstraße/Lützowstraße lange zugemauert, verputzt und geglättet, wie auch die Fassaden der angrenzenden Häuser. In meiner Kindheit und Jugend boten sie sich noch roh und unverputzt, kohlenstaubdunkel und schartig dar. Es war die für das Ruhrgebiet und damit auch für meinen Gelsenkirchener Heimatstadtteil Ückendorf typische Ziegelsteinarchitektur, in der man gleichermaßen Fabriken und Wohnhäuser errichtet hatte.
Ende der 50-er ging die große Zeit des Kohlebergbaus zu Ende, und es wohnten schon lange keine Bergleute mehr in unserem Viertel. Der Krieg hatte viele Frauen zu Witwen, Männer - wenn sie denn wiederkamen - zu Krüppeln gemacht. Und so waren die Wohnungen in unserer Straße entweder von alleinstehenden Damen bewohnt, oder es drängten sich Familien mit vielen Kinder auf viel zu wenig Wohnraum. Wir lauten und frechen „Blagen“ spielten deshalb - wann immer es ging - draußen auf der Straße, aber nur so lange, „bis die Laternen angehen“, wie mich meine Eltern immer wieder streng ermahnten.
Ich habe in meinem Bild nicht nur eine Straßenlaterne früherer Zeiten wieder an ihren Platz an der Straßenecke des ziegelsteingeprägten Hauses montiert, sondern den älteren Mann von heute auf die nicht mehr vorhandene Treppe zu Brakes damaligem Lebensmittelgeschäft gesetzt, das - flankiert von schummrig schimmernden Schaufenstern - wirkt, als wären seither nicht 50, 60 Jahre verstrichen: Vergangenheit und Gegenwart, Erinnerung und Wirklichkeit verschmelzen damit auf diesem Gemälde zu einer real scheinenden Einheit.
Wolfgang Moritz (2013)
„Lebensmittel Brake, Ecke Schillstr./Lützowstr.“
(70 x 50 cm, Öl auf Leinwand, 2013)
Autor:Wolfgang Moritz aus Gelsenkirchen |
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