Im Ückendorf der 50-er und 60-er: Schillstraße 7, Hofseite
Zu den vielen Bildern, die anlässlich der in 2012 erlebten Wiederbegegnung mit meiner Vaterstadt Gelsenkirchen in meinem Kopf lebendig wurden und die den Anstoß für eine Reihe von zwischenzeitlich entstandenen, von Gelsenkirchener Motiven der 50-er und 60-er Jahre geprägten Gemälden gaben, gehören auch jene der Hofseite unserer Wohnung in der Ückendorfer Schillstraße 7.
Ein Besuch vor Ort ließ mich unser Haus und unsere Wohnung natürlich wiedererkennen, und auch die Gasse zum Nachbarhaus hin tat sich ganz wie früher wieder vor mir auf. Von den ehemaligen Hinterhöfen meiner Kindheit und Jugend allerdings hat sich nichts erhalten, der Platz wird heute von einer der üblichen ausdruckslosen Garagenanlagen bestimmt und belegt.
Wie anders sah es in den 50-ern und 60-ern hier aus: Der Charakter der ruhrgebietstypischen Bauweise und Flächennutzung war, wenn auch bereits teils verändert, teils sogar vernachlässigt, durchaus noch erkennbar: Für die vor uns hier wohnenden Bergmannsfamilien bedeuteten ein Stallgebäude, ein Nutzgarten sowie eine Anlage mit Außentoiletten für damalige Zeiten großen Komfort. Auch wir betrachteten unseren Umzug Mitte der 50-er Jahre von einem Schalker Behelfsheim in die Ückendorfer Schillstraße als enorme Verbesserung der Lebensqualität, erfreuten uns am für uns neuen Luxus elektrischen Stroms und fließenden Wassers. Diese Sicht änderte sich im Laufe der Jahre, erhielt man doch nach und nach Einblicke in moderne Neubauwohnungen, sah die eigenen unbequemen und beengten Wohnverhältnisse zunehmend klarer, was dazu führte, dass ich als Heranwachsender meine Adresse lieber verschwieg, weil ich mich ihrer zu schämen begann.
Zu Zeiten meiner Kindheit war ich mir dessen nicht bewusst: Haus und Straße waren ein einziger großer Abenteuerspielplatz, den ich mit den zahlreichen Kindern der Nachbarschaft ausgiebig teilte und nutzte. Eine wichtige Rolle spielte hierbei der Hof hinter unserem Haus. Aus der Erinnerung gemalt, blickt man in meinem Gemälde aus unserem Küchenfenster auf die gesamte Hof- und Gartenfläche, die über eine vom Hausflur aus hinabreichende Treppe zu erreichen war. Linkerhand sieht man das Gebäude mit den Außentoiletten, die zu begehen nicht nur bei Dunkelheit und/oder schlechtem Wetter stets als unangenehm empfunden wurde. Im heruntergekommenen Stallgebäude mit seinem abbröckelnden Putz, morschen Balken und maroden Türen, das man mangels elektrischer Beleuchtung nur am Tag betreten konnte, rosteten alte Werkzeuge und Geräte vor sich hin. Um die Belegung der auf der kleinen Wiese stehenden Wäschestangen gab es häufig Streit unter den Nachbarinnen, und der Platz auf der Gartenbank gehörte selbstverständlich vorrangig den Erwachsenen. Hinter der Mauer sieht man auf die Häuser der Regensburger Straße; besonders ins Auge fällt dabei jenes hoch aufragende Haus, das links neben dem im Viertel heißgeliebten und vielbesuchten Scala-Kino stand - und heute noch steht.
Mein bevorzugter Platz und der meiner Spielkameraden war stets die graue, staubige Fläche im Vordergrund. Hier gab es keine Spielgeräte, aber ein paar „Ascheimer“ und ein Seil ergaben mit viel Phantasie z.B. einen Schiffsbug, auf dem wir dann das Leben einer Binnenschifferfamilie darzustellen versuchten. Wir zogen mit einem handbreiten Stückchen Holz Straßen für unsere Bakelitautos durch den Staub, spielten mit und um kleine Glaskugeln, lärmten so laut und ausdauernd, bis aus dem Obergeschoss ein heftiger Fluch oder auch ein Eimer Wasser auf uns niederging.
Mit einem idyllischen Kindheitsparadies hatte dieser Platz damals wenig gemein, und so liegt mir auch heute jegliche nachträgliche Verklärung fern. Aber ich bin dankbar für die hier erfahrene ständige Anregung, mit fast nichts außer viel Phantasie eine eigene kleine Welt erstehen lassen zu können, in der man Glückseligkeit verspürte und aus der einen nichts und niemand wirklich zu vertreiben vermochte.
„Schillstraße 7, Hofseite“
von Wolfgang Moritz
(70 x 50 cm, Öl auf Leinwand, 2013)
Autor:Wolfgang Moritz aus Gelsenkirchen |
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