Jugendliche aus Gelsenkirchen waren mit dem Projekt Europefiction zu Gast in Liverpool
„Es gibt noch mehr von uns“
Aus Pottfiction wird in diesem Sommer Europefiction und natürlich ist das Consol Theater wieder mit dabei. Dazu ging es Anfang März auf eine Reise nach Liverpool, wo sich eins der Europefiction Partnertheater befindet. Dabei stellte Rabea Porsch ganz begeistert fest: „Es gibt noch mehr von uns.“
Was sie damit meint ist ganz einfach: Junge Leute, die Lust haben ihre Gefühle, Sorgen, Gedanken und mehr auf eine Theaterbühne zu bringen und andere daran teilhaben zu lassen. Bemerkenswert daran ist aber auch, dass sich die jungen Leute mehr als Europäer, denn als Deutsche oder Briten fühlen und im gemeinsamen Spiel die Wurzeln in den Hintergrund geraten.
17 junge Leute im Alter von 16 bis 24 Jahre treffen sich jeden Dienstag im Consol Theater, um unter der Anleitung von Nelly Köster ein Stück zu erarbeiten und zu inszenieren. Mithilfe von Skype-Verbindungen und dem Drehen von Videosequenzen tauschen sich die Gelsenkirchener mit den Liverpooler „Europefictern“ aus, damit am Ende ein gemeinsames Stück auf die Bühne gebracht werden kann.
Denn vom 13. bis 21. Juli sind rund 150 Jugendliche zuzüglich ihrer etwa 20 Betreuer zu Gast auf dem Consol-Gelände, um miteinander Theater zu spielen und den jeweils anderen Gruppen das von ihnen erarbeitete zu präsentieren. Dann dürfte ein Art babylonischer Sprachvielfalt zwischen Bismarck- und Consolstraße herrschen, doch die Erfahrungen aus Liverpool zeigen, dass sich die jungen Leute über ihr Spiel und den Ausdurck verständigen.
Das Pottfiction-bewährte Consol Theater geht nun mit vier weiteren Theatern aus dem Ruhrgebiet eine Liason mit fünf europäischen Partnertheatern in Rottdam, Bologna, Budapest, Paris und eben Liverpool ein. Das Partnertheater des Consol ist das „20 stories high“, ein Theater, das nur über ein Büro verfügt und an verschiedenen Spielorten auftritt.
„Dabei ist aber die Idee und die Vorgehensweise des Theaters 20 stories high den unseren sehr ähnlich“, erklärt Projektleiter Georg Kentrup vom Consol Theater, der mit der „Zulosung“ sehr zufrieden ist. Finanziert wird das Ganze durch verschiedene Fördertöpfe.
Hier vor allem das Erasmus+ Jugend in Aktion der Europäischen Union. „Unser erster Antrag wurde abgelehnt, aber uns wurde auch gleich signalisiert, dass wir uns davon nicht abschrecken lassen sollten, also haben wir es noch einmal versucht und hatten Glück“, erläutert Kentrup. Weitere Mittel stammen von der Stiftung Mercator, des Regionalverbandes Ruhr und dem Kulurministerium des Land NRW.
Die Ausstattung ist nicht gerade feudal zu nennen, aber die jungen Leute sind ebenso wenig verwöhnt wie das Consol Theater und so stellten die Umstände der Reise nach Liverpool für sie kein Hindernis dar. „Der Nachtflug war schon anstrengend“, berichtet Rabea Porsch. „Wir haben uns morgens um drei Uhr hier am Bahnhof getroffen und kamen schließlich um 13 Uhr vor Ort an. Da fielen dem ein oder anderem am Abend bei einer Theatervorstellung schon mal die Augen zu.“
Auch ansonsten stellte die Reise ein Abenteuer dar: „In unserer Gruppe sind neun Geflüchtete und für drei von ihnen haben wir kein Visum für Großbritannien bekommen“, schildert Georg Kentrup, der das Gefühl hatte, dass hier reine Willkür den Ausschlag gab. „Die sechs mitreisenden Geflüchteten waren am Ende sehr glücklich über diese Reisefreiheit.“
In Liverpool war die Gruppe in einem Hostal untergebracht, wo sie auch Frühstück erhielt. „Der Transfer war nicht inklusive“, lacht Kester Crosberger. „Für das Essen sorgten die Liverpooler und haben uns immer wieder eingeladen. Denn auch das war nicht durch die Förderung abgedeckt.“
Für die 20-jährige Rabea, die seit vier Jahren mit dem Theatervirus infiziert ist, war es das erste Mal, dass sie in der Rolle der Ankommenden fungierte. Eine neue Erfahrung für die junge Frau, die eine Assistenz am Consol Theater sowie einem inklusiven Theater in Bochum absolviert, in Bochum studiert sie auch Theaterwissenschaften und hat zusätzlich eine Bewerbung für das Fach „Kreatives Schreiben“ in Hildesheim laufen.
Das Oberthema von Europefiction lautet in diesem Jahr „Freiheit und Identität“. Jede Partnergruppe hat dazu dann ein spezielles Unterthema erhalten. Die Gruppe aus Gelsenkirchen und Liverpool widmet sich der „Krise“, bei den anderen geht um Vernunft, Diversität, Solidarität und Schutz. Die Zusammensetzung der Gruppen von Consol und 20 stories high bietet einen gesellschaftlichen Spiegel. „Die jungen Leute haben verschiedenste Hintergründe, da gibt es Gymnasiasten ebenso wie den Auszubildenden zum Lkw-Fahrer und so kommen viele unterschiedliche Perspektiven auf das Thema zusammen“, erläutert Kentrup.
Auf dem Programm standen ein Tanzworkshop, kreatives Schreiben und vieles mehr. In Liverpool besuchten die jungen Leute verschiedenste Örtlichkeiten, so auch das Anfield-Stadion. Dort nahmen drei der Teilnehmerinnen für ein Foto Platz auf den Interviewsesseln von Trainer, Sportdirektor und Kapitän „und plötzlich stellte einer aus unserer Gruppe eine Frage, wie sie sonst an dieser Stelle von Journalisten kommen würde und so entspann sich ein Improtheater. Gut, einige der anderen Besucher, die nur darauf warteten auch Platz nehmen zu können für ein Foto, waren ein wenig angeranzt, aber wir hatten Lust auf ein spontanes Theater“, freut sich Rabea. „Liverpool hat uns ein tolles Spannungsfeld geboten und es war super energetisch. Das war ein heftiges Gefühl, diese freigesetzte Energie zu spüren und einfach zu merken: Es gibt noch mehr von uns!“
Natürlich war auch der Brexit ein Thema, jedenfalls als sich die jungen Leute klar machten, dass die Entscheidung kurz bevor stand. „Das wurde mir erst kurz vor dem Flug bewusst, dass in Großbritannien vielleicht Endzeitstimmung herrscht. Aber in den Straßen war dann alles ganz normal. Zum Thema wurde der Brexit als wir eine Diskussion mit Kim Johnson einer Liverpooler Politikerin und dem Gelsenkirchener Grünen-Politiker Patrick Jedamzik über Skype führten. Da war das Thema plötzlich nicht mehr abstrakt und wir spürten die Ängste der jungen Briten hautnah“, berichtet Rabea.
„Grace, eine junge Frau aus der Liverpooler Gruppe, berichtete uns von ihren Freunden, die vor sieben Jahren aus politischen Gründen aus Spanien nach Großbritannien geflüchtet waren. Sie hatten bisher noch keine Chance zur Einbürgerung und nun droht ihnen, dass sie ausreisen müssen“, erzählt der 19-jährige Kester.
Ansonsten machten die jungen Gelsenkirchener die Erfahrung, dass es in Liverpool viel Armut gibt. So führte Rabea auch Gespräche mit Obdachlosen, die ganz klar die Regierung für ihre Misere verantwortlich machten. „Die Menschen dort im urbanen Raum waren ganz anders als hier. Sie waren alle unglaublich offen und gesprächsbereit. Man könnte sagen, es gab wohldosierten Smalltalk mit gelegentlichen Tiefen, statt der hier vorherrschenden Haltung, dass jede für sich bleiben möchte“, erfuhr Rabe Porsch.
„Das war kein Ausflug, sondern Arbeit“, lacht Kester Crosberger. „Die freigesetzte Energie wirkte sich auch auf das szenische Arbeiten aus. So konnten wir trotz Sprachbarrieren an unserer Szene zur Krise arbeiten und man spürte einfach, dass das Theaterspiel und das Thema als Medium mehr bewirkten als die Sprache. Wenn dann aber fünf Leute in ihrer Sprache über ein Problem reden, dann fühlt man, was Europefiction ausmacht.“
Autor:silke sobotta aus Gelsenkirchen |
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