Eine große Familie

Am 19. September kommen die kleinen SängerInnen ganz groß raus beim MärchenErzählFestival.
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„Es ist nicht immer leicht, in einem neuen Land ein neues Leben anzufangen.“ So steht es in der Einleitung zum Buch „Theaterstudio der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen“, das einen Überblick gibt über die Aktionen der Gemeinde-Theatergruppe. Und damit ist eigentlich auch schon die Verbindung erklärt, die die Gemeinde zusammenschweißt.

Seit drei Jahren ist die Neue Synagoge an der Stelle der im Dritten Reich zerstörten „alten“ Synagoge ein fester Bestandteil des Gelsenkirchener Innenstadtbildes. Der geradlinige Bau, die nur durch einen Pförtner Einlass gewährende Tür und die häufige Präsenz eines Polizeiwagens in direkter Nähe lassen mitunter eine gewisse Distanz zwischen den Bürgern und der Gemeinde aufkommen. Doch bittet man um Einlass, so wird er gewährt und im Inneren präsentiert sich das nüchterne Gebäude als ein lebendiger und oft auch fröhlicher Ort.

Die Jüdische Gemeinde zählt derzeit über 400 Mitglieder, unter denen sich rund 40 junge Leute unter 18 Jahren befinden. „Viele der Familien stammen aus den ehemaligen Staaten der Sowjetunion und sind oft wenig religiös, wenn sie in Deutschland ankommen. Sie erinnern sich aber daran, dass sie Juden sind und schicken gern ihre Kinder in unsere Jugendgruppen und auch in unseren Religionsunterricht“, berichtet Judith Neuwald-Tasbach, die 1. Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen.
Die Kinder sind in der Schule vom Religionsunterricht freigestellt, sie können aber in der Jüdischen Gemeinde zeugnisrelevant in jüdischer Religion unterrichtet werden. Dazu gibt es eine Absprache mit dem Lehrplan, die dafür sorgt, dass der Unterricht auf dem Zeugnis wie die anderen Fächen auftaucht.
Besonders stolz ist die erste Frau der Gemeinde darüber, dass in diesem Jahr zwei Batmizwahs gefeiert werden konnten. Am Samstag nach ihrem 12. Geburtstag wurden die beiden Mädchen in die Gemeinde der Erwachsenen aufgenommen. „Das ist in etwa vergleichbar mit der evangelischen Konfirmation, denn auch die Mädchen, die zur Batmizwah gehen, und die Jungen, bei denen es die Bamizwah ist, absolvieren vorher einen speziellen Unterricht, der sie darauf vorbereitet als Erwachsene am Leben der Gemeinde teilzunehmen“, erläutert Neuwald-Tasbach.
Grundlage für die Entscheidung der jungen Mädchen zu diesem Schritt war aber sicherlich auch die gute Jugendarbeit der Gemeinde, die in den Händen von Nelya Lenz liegt. Sie kam selbst 1997 aus der Ukraine nach Gelsenkirchen. „Ich habe mich von Anfang an mit der Gemeinde identifiziert und möchte jetzt etwas zurückgeben für das, was man mir hier angedeihen ließ“, berichtet die junge Frau, die in ihrer alten Heimat eine pädagogische Ausbildung genossen hat.
Sie betreibt das „Jugendzentrum“ innerhalb der Gemeinde und bietet dabei Treffen für sechs- bis neunjährige sowie zehn- bis 17-jährige Kinder und Jugendliche an. „Die Kinder kommen alle sehr gern. Wir spielen, basteln, gehen ins Kino, machen Ausflüge und toben herum. Die Kinder lieben es, auf mir herum zu klettern und mit mir zu toben. Dabei zieht sich aber durch all unser buntes Treiben wie ein roter Faden die Religion, die den Kindern spielerisch vermittelt wird. Es soll keine Überfrachtung geben, die ja leicht zu Übersättigung führen könnte, sondern immer nur Erklärungen, wenn diese nötig sind“, erläutert Nelya Lenz.
Ebenfalls um die Kinder der Gemeinde sehr bemüht ist Viktoria Sarazinski, die mit Kindern im Alter von vier bis zehn Jahren das Musical „Schneewittchen“ in russischer Sprache einstudiert hat. Die Premiere fand im letzten Dezember statt und am 19. September feiert „Schneewittchen“ die Premiere in deutsch in der Neuen Synagoge im Rahmen des MärchenErzählFestivals.
„Ich betreue die Kinder im Alter ab zwei Jahren und wähle ab vier Jahren Kinder aus, die für die Gesangsgruppe geeignet sind“, schildert Frau Sarazinski. Die dargebotene „Schneewittchen“-Version hat sie aus ihrer alten Heimat, ebenfalls der ehemaligen Sowjetunion, mitgebracht und für die Musicalgruppe adaptiert und übersetzt.
Die Kinder proben ein- bis zweimal in der Woche und haben, wie man bei einem Besuch der Synagoge schnell feststellen kann, sehr viel Spaß daran. Die russische Version ist inzwischen auch schon häufiger für andere Kindergruppen, aber auch in anderen Jüdischen Gemeinden aufgeführt worden.
Das Bühnenbild sowie die Kostüme der Kinder werden in liebevoller Kleinarbeit von den Eltern der kleinen Sängerinnen und Sänger erstellt. So bleibt das Gesamtwerk Musical ein Engagement der Gemeinde.
Durch viele öffentliche Auftritte bereits bekannt ist auch der Chor der erwachsenen Gemeindemitglieder „Shalom Chaverim“, der seit zehn Jahren besteht und auch beim Benefizkunstmarkt Schloß Berge live zu erleben war. Der Rabbiner Chaim Kornblum, der seit Januar 2008 für die Gemeinde zuständig ist, probt wöchentlich mit dem Chor und das in jüdischer, hebräischer und russischer Sprache. „Man kann uns übrigens auch zu Festen einladen. Wir kommen gern“, freut sich der Rabbiner.
Aber es gibt noch sehr viel mehr Aktivitäten in der quirligen Gemeinde. So feierte der Männerverein Chaverim kürzlich sein 10-jähriges Bestehen, der runde Geburtstag der Gymnastikgruppe steht kurz bevor, die Theatergruppe „Theaterstudio“ gibt es bereits seit elf Jahren und den Frauenverein seit vielen Jahrzehnten.
Daneben gibt es noch den „Mann für alle Fälle“ Chalif Semen, der als Sozialarbeiter für die Gemeinde tätig und Ansprechpartner ist für alle Probleme, die bei den Gemeindemitgliedern auftreten können. „Da geht es um die Schule für die Kinder, die Wohnungssuche, Sprachkurse für Erwachsene, Grundsicherungsfragen, Amtsgänge, Formula und vieles mehr. Zum Beispiel gibt es in unserer Gemeinde noch viele Holocaust-Überlebende, die Ansprüche geltend machen können“, erläutert Chalif Semen, der auch weiß, dass das älteste Gemeindemitglied Frau Schwarz ist, die es auf 103 Wiegenfeste bringt.
Für das Theaterstudio stehen die Komödien an erster Stelle: „Sie sind unsere Welt“.In einem sind sich alle einig: „Es ist alles sehr harmonisch bei uns und wir fühlen uns als eine große Familie“. Und damit ist es der Gemeinde gelungen, das neue Leben in einem neuen Land für die Gemeindemitglieder nicht immer leicht, aber leichter zu gestalten.

Am 19. September kommen die kleinen SängerInnen ganz groß raus beim MärchenErzählFestival.
Stolz präsentieren die Kinder ihre Kunstwerke, die sie in der Jugendgruppe gemeinsam mit Nelya Lenz gemalt haben. Fotos: Ralf Nattermann
Autor:

silke sobotta aus Gelsenkirchen

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