Über das Normalisierungsprinzip im Behindertenbereich.
Die Grundidee des Normalisierungsprinzips ist die, dass man jedem behinderten Menschen unter dem Aspekt der Normalität ein unbeschwertes und normales Leben ermöglichen kann, entsprechend dem Leben eines nichtbehinderten Menschen.
So manches Mal, wenn ich die Vorgänge beobachte, kommen mir die Zweifel, ob Jene, die sich diese Vorgänge erdacht hatten überhaupt wussten, ob ihre Ansätze zu verstehen sind. Mag sein, dass hier allzu blauäugig eine Maschinerie in Gang gesetzt wurde, die niemand begreifen kann.
Es stellt sich jedoch die Frage: Ist das eigentlich möglich und will der Behinderte Mensch das eigentlich? Muss man hier nicht unterteilen zwischen der Art der Behinderung und den individuellen Möglichkeiten die sich auftun, bezogen auf den Freiheiten, die dieses Prinzip dem Menschen nun erlaubt, und er es dann auch umsetzen kann?
Bei der Anwendung und Umsetzung dieser Idee hat man oftmals das Gefühl, das von einigen Durchführenden gar nicht verstanden wurde, was mit dieser Idee im Grunde gemeint ist. Anstatt nun eine gewisse Normalität den Behinderten zukommen zu lassen, werden sie nun überbehütet, von allem, was ihnen Stress bereiten könnte, abgeschottet und sollen nun einfach glücklich und zufrieden sein.
Der Begriff „Norm“ ist eine Richtschnur oder Orientierungsmaßstab, die das Leben und Zusammenleben dadurch vereinfachen soll, da sie Vorgaben beinhaltet, die auf unser jeweiliges Leben und Kultur abgestimmt sind.
Durch die Gaußsche Glockenkurve wird die entsprechende, momentan aktuelle Normalität anschaulich dargestellt. Was in der derzeitigen Epoche als normal bezeichnet wird, entspricht in absehbarer Zeit möglicherweise gar nicht mehr der Normalität, da sich Maße, Zahlenvorgaben und Ansichten fortlaufen ändern und der Zeit oder der Handhabung anpassen.
Unter dem Aspekt der Phylogenetik (Wissenschaft nach Herkunft und Rasse) ist die Normalität entsprechend der unterschiedlichen kulturellen Grundlagen strukturiert. Und die Normalität in unserer Kultur ist längst nicht die, die für andere Kulturen zutreffend ist. Man denke hier nur an die Verschleierung von Frauen, die auf die westliche Welt suspekt wirkt, in anderen Kulturen jedoch als Vergehen geahndet wird, wenn man sie nicht befolgt. Insofern ist die jeweilige Normalität abhängig von der gegenwärtigen Zuordnung unserer Ansichten zu Anstand, Moral und Toleranz.
Das im Behindertenbereich vorgesehene Normalisierungsprinzip wird häufig insofern missverstanden, als dass von den Ausführenden oftmals geglaubt wird, dass Normalisierung dadurch stattfindet, als dass dem behinderten Menschen ein Umfeld voller Zufriedenheit mit Ausflügen, Kaffeetrinken und ununterbrochener Freude bereitet wird.
Das mag ja für alle Beteiligten anstrebenswert sein, entspricht jedoch in keiner Weise der Normalität. Zur Normalität im Leben eines Menschen gehören auch Momente der Traurigkeit, der Unzufriedenheit, des Zorns und der Enttäuschung. Lernprozesse geschehen in der Regel durch negative Erfahrungen und Empfindungen. Insofern dürfte sich jenes Prinzip eigentlich einzig auf die elementaren Rahmenbedingungen beschränken jedoch nicht auf das emotionale Erleben, dass man einzig in Zufriedenheit kanalisieren will.
Wollte man einem Kostenträger nun eine Gruppe behinderter Menschen präsentieren, die sich denkbar unzufrieden zeigen und ihm erklären, dass jene Unzufriedenheit ein Element der Normalisierung sei, so könnte es sein, dass man ein Problem bekommt und die Übernahme der Betreuungskosten infrage gestellt wird.
Insofern befindet man sich in dem Dilemma, dass Normalität gefordert, aber nicht angewandt werden kann, da durch die Normalisierung eine Normalität erreicht würde, die Unzufriedenheit derer zur Folge hätte, dass Kostenübernahmen verweigert würden, da Normalisierung von ihnen schlicht fehl gedeutet wird. Dabei wird ein Normalverhalten jedoch weiterhin gefordert, wobei dann bewusst vorgegebene Normalisierung, die nicht der Normalisierung entspricht, als Normalisierung akzeptiert und die Kosten übernommen werden.
Alles klar...?
Umso unverständlicher ist, dass jene Normalisierung weiterhin eine elementare Säule von Leitzielen darstellt, aber eine Scheu davor besteht, sie behinderten Menschen zuzugestehen. Als wolle man sie von allem Unangenehmen abschirmen, werden sie zum Einen überbehütet und teilweise verwöhnt und zum Anderen werden besonders unangenehme, verhaltensauffällige Behinderte hinter geschlossenen Türen von der Gesellschaft ferngehalten.
Das soll alles der Normalität entsprechen...?
Des Weiteren erscheint es als merkwürdig, dass in der Behindertenarbeit die Position sowie das Gehalt höher dotiert ist, je weiter man sich von den behinderten Menschen entfernt. Und diese Pöstchen sind die begehrtesten, insbesondere bei der unteren Führungsebene.
Die Nähe zu Behinderten ist immer mit geringerem Einkommen und niederster Position verbunden. Hier meine ich natürlich die unmittelbare Nähe und nicht die Nähe aus der Distanz, etwa, wenn man eine Dienststelle leitet. Warum das so ist siehe meinen Beitrag http://www.lokalkompass.de/goch/leute/ueber-das-angenehme-gefuehl-mit-behinderten-menschen-zusammen-zu-sein-d4067.html . Doch ausführlicher wollte ich an dieser Stelle nicht auf dieses Thema eingehen.
Zu erwähnen sei noch der Dokumentationswahn, der heutzutage im extrem übertriebenen Maße im gesamten Gesundheitswesen stattfindet und bei dem vor lauter dokumentieren kaum noch Zeit für jenen bleibt, über die dokumentiert wird. Auch hier wird einer Vorgabe nachgehetzt, die mehr Ressourcen für die Umsetzung verschlingt, als dass sie dem Klienten irgendwelchen Nutzen bringt. Ob das in irgendeiner Weise mit sinnvoller Normalität gleichzusetzen ist, sei dahingestellt.
Abschließend sei angemerkt, dass sich die Kritik dieses Beitrages weniger auf die Einrichtungen für Behinderte bezieht, was die Rahmenbedingungen dieser Einrichtungen betrifft. Er sollte eher dem Verbesserungsmanagement dienen.
Eigentlich ist es sehr beeindruckend zu sehen, welch positive Veränderungen in den letzten Jahrzehnten erfolgt sind, welch gigantische Summen für die Betreuung von der Politik bereitgestellt werden. Gemessen an den Zuständen der 70er Jahre, als ich meine Arbeit in der Psychiatrie und im Behindertenbereich begann, liegen zu den heutigen Strukturen nicht Welten, sondern „Galaxien“ dazwischen. Nur die Einstellung zu Behinderten und den persönlichen Einsatz hierzu kann man leider nicht anordnen, er muss von dem Einzelnen kommen. Insofern sei es jedem freigestellt, inwieweit er sich hier wiederfindet.
Foto: Rainer Sturm, Pixelio, zur Veröffentlichung freigegeben.
Autor:Kurt Nickel aus Goch |
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