Mit 61 Jahren Analphabetin - jetzt Redaktionsmitglied
Nie ist es zu spät! Wie wahr. Denn es grenzt fast an ein Wunder, was die 66-jährige Brigitta Schneider in den letzten Jahren erlebte: An Glücksgefühlen, Hochachtung, Anerkennung. Obwohl ihre Kindheit, Jugendzeit sehr mies war. Auch ihre Ehe. Aber das Glück begann mit ihren zwei Kindern. Analphabetin Brigitta Schneider schaffte es mit ihrer mütterlichen Liebe, dass beide Mädchen studierten! Und mit 62-Jahren wurde Brigitta ein I-Männchen…
Wie viel Stärke in der kleinen Britta schon steckte – die Vorgeschichte (wir berichteten bereits). Mit vier Geschwistern wuchs sie ärmlich auf. Die Mutter war immer krank. Also schulterte die Kleine den großen Haushalt, folglich blieb die Schule deshalb auf der Strecke. Als 13-Jährige wurde sie Laufmädchen in einer Friedhofsgärtnerei, später wechselte sie ins Hotel als Zimmermädchen.
Noch immer konnte sie nicht Lesen, Schreiben. Aber sie entwickelte starke Strategien. Wuselte sich clever irgendwie durch. 1966 Heirat. Das Hochgefühl kam für sie mit den zwei Kindern; für ihren Mann erkaltete die Liebe, „er kümmerte sich um nichts“. Sie warf den Tankwart aus der Wohnung.
Die Sehnsucht blieb – Lesen, Schreiben zu erlernen. Aber an erster Stelle standen ihre Kinder. „Ich habe immer aufgepasst, dass sie ihre Schulaufgaben gründlich machen; mich um sie gekümmert, sie gehütet. Sie sollten es besser als ich haben.“ Nebenher verdiente sie als Haushaltsvorstand Geld durch Putzen, „damit die Töchter Bücher kaufen konnten.“
Zwar besuchte sie in Recklinghausen für Analphabeten einen Kurs. Klappte nur kurz, die Scheidung zog sich lang hin. Eben, immer wieder kam was dazwischen…
Der Zufall half himmlisch. In Essen-Frohnhausen wohnt das Ex-Lehrerehepaar Gerwinski. Zwei Söhne zählen sie zu ihrem großen Glück. Peter und Markus – beide mittlerweile verheiratet; Markus, der Jüngere mit Sandra, Tochter von Brigitta Schneider.
Sandra beichtete den Gerwinskis von „Mamas Schwäche“. Das Thema schlug bei beiden wie der Blitz ein. Die Pädagogen stürzten sich förmlich auf ihr „Lern-Opfer“, brachten ihr von A bis Z alles liebevoll bei: die Buchstaben, das Lesen, das Schreiben.
Seitdem hat Brigitta die Welt erobert. Fuhr flugs nach Zeche Zollverein, „weil dort unsere Bundeskanzlerin Merkel war.“ Eine WDR-Führung machte sie mit. Sie wollte wissen, wie die Zeitung gestaltet wird. Äußerte sich im WDR Köln zum Thema Analphabeten, unterhielt sich im Ü-Wagen mit Sylvia Löhrmann, stellvertretende Ministerin, über Fördermaßnahmen in der Schule. Bei einer Wahlveranstaltung auf dem Willy-Brandt-Platz schnappte sie sich ein Autogramm von Oskar Lafontaine - und zwar in Ermangelung eines entsprechenden Fotos auf einem Flyer der Piratenpartei! Als Lafontaine mokierte, die sei doch nicht seine Partei, konterte Brigitta: „Sie können ja die Piraten entern.“ Kommentar klasse – Signierung folgte prompt.
Neuer Wendepunkt: Brigitta wohnt nicht mehr in Essen. „Meine Tochter und mein Schwiegersohn mussten 2011 nach Niedersachen umziehen, berufsbedingt. Da ich an beiden sehr hänge, zog ich in ihre Nähe, nach Stade.“
Anfang 2012 stieß Brigitta auf die Einrichtung „Brücke“, Hilfe und Halt e.V., in Stade, einige Meter von ihrer Wohnung entfernt. „Hier habe ich eine Lebensaufgabe gefunden. Ich bin glücklich wie nie zuvor. Als Ehrenmitglied kümmere ich mich um psychisch Kranke, mache telefonischen Beratungsdienst. Ich hole die Handarbeitsgruppe in meine Wohnung, helfe bei den Vorbereitungen der Mahlzeiten, unternehme Ausflüge mit kleinen Gruppen. Am Himmelfahrtstag organisierte ich eine Grillparty, leitete die herrliche Veranstaltung.“
Glücklich sind auch die Gerwinski’s. „Brigitta wird jetzt nötig gebraucht, kann all die schlimmen Erfahrungen ihrer eigenen Kindheit, Jugend und Zeit als Ehefrau, die sie in langen Jahren mit Hilfe eines Therapeuten bewältigte, umsetzen in Lebenshilfe für Menschen, denen es schlecht geht; denen sie eine starke Stütze ist.“
Es gipfelt weiter mit dem Tatendrang von Brigitta Schneider. Jetzt gehört sie zum Redaktionsteam der „Brücke“. Ihren ersten Bericht verfasste sie über einen Ausflug in den Weltvogelparkt Walsrode.
Schluss-Punkt?! Nö, das Brigitta-Schneider-Märchen geht hoffentlich nie zu Ende.
Autor:Ingrid Schattberg aus Essen-West |
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