"Mein Leben fängt neu an"

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Chapeau - vor dem Jahrhundert-Rechentalent Erna Jenke---!

Denkaufgabe: Eigentlich hätten wir Erna Jenke erst in 20 Jahren gratulieren müssen, denn sie sieht allerhöchstens wie 80 Lenze aus. Sie wurde am 13. Februar 1911 geboren. Im Stammbuch steht’s. Doch ihre Augen tragen eine bemerkenswerte Alterslosigkeit. Und hallo – in ihrem „Innenstübchen“ hat sie glasklar, filmreif ein Jahrhundert-Leben zum Abspulen…

Grotehof, Raumerstraße, da lebt das zierliche Persönchen Jenke seit 2009. Blumenstrauß-Büsche gab’s massig zu ihrem Jubeltag. „Ich kann jetzt einen Blumengeschäft eröffnen“, meint sie keck. Vor 100 Jahren machte Klein-Erna in Hettstedt/Eisleben ihren ersten Schrei. „Ja, wo ist die Zeit geblieben?“ Ein Wimpernschlag und sie legt los…
„Auf allen Arbeitsstellen war ich jeweils zwölf Jahre. Als Buchhalterin. Mit 14 Jahren fing ich beim Gerichtsvollzieher in Torgau/Elbe an.“ Sie sieht förmlich noch das Büro vor sich. „Samstag war Schluss mit der Schule. Montag fing ich an zu Arbeiten. Null Ahnung. Alles musste ich mir aneignen, da meine Vorgängerin schwanger, der Chef oft auswärts war. Oft schleppte ich die Akten mit nach Hause, wenn nur ein Pfennig in der Abrechnung zu wenig war. Der Saldo musste immer stimmen.“
Sie plaudert aus dem Nähkästchen: „Viele Menschen waren damals verschuldet. Mein Chef musste dann die Sachen pfänden. Einmal ein Büfett. Doch seine Handschrift war sehr undeutlich, und ich las daraus „Büffel“. Danach folgte von der Firma ein Schreiben: Seit wann in Deutschland auch Büffel gepfändet würden…“
Hautnah erlebte die junge Erna Versteigerungen, wenn Anwesen von Gutsbesitzern unter den Hammer kamen. „Sie wurden zum Offenbarungseid abgeholt, mussten schwören, dass sie nichts mehr besitzen.“ Ihr Herz zerriss es oft, wenn bei Scheidungen das Sorgerecht für das Kind einem Elternteil zugesprochen wurde. „Der Gerichtsvollzieher holte das Kind von der Schule ab; ich erlebte oft, wie es praktisch von den Eltern „zerrissen“ wurde; natürlich wollten Mutter wie Vater es haben.“
Ernas zweite Arbeitsstelle folgte beim Arbeitsamt in Bitterfeld. Danach zog es sie als Buchhaltungsleiterin zur Deutschen Bauernbank, Halle; 1956 ging es nach Essen-Kupferdreh zu den Wuppertaler Stadtwerken. „Wir wohnten in Borbeck. Arbeitsbeginn sechs Uhr, vier Uhr aufstehen, mit Straßenbahn, Bus zur Firma fahren; 18 Uhr – Zuhause.
Sicher, nicht nur Sonnenschein kennt das agile „Arbeitstier“. Zwei Weltkriege durchzitterte sie. Ihr Mann, Laborant, starb früh. Und auch von ihren drei Töchtern musste sie die Älteste, Hannelore, beerdigen. Ihre Augen verdunkeln sich, „das war furchtbar schwer.“
Wie schaffte Erna denn bei der Groß-Familie zusätzlich zu arbeiten? „Meine Mutter, die Oma, hat die Kinder versorgt. Denn zur Nazi-Zeit mussten wir raus aus der Wohnung in Bitterfeld; sie nahm uns auf.“
Wie bleibt man so fit? „Ich war immer im Turnverein. Und ich tanze für mein Leben gern. Es begann mit dem Charleston. Kennen Sie den?“ Und haste nicht gesehen, schwingt sie auf dem Stuhl Beine und Hände.
Ein Wunsch? „Liebend gern würde ich selber kochen. Das fehlt mir so. Sie schwärmt: „Weihnachten gab es immer fünf Kaninchen mit Rotkohl für zwölf Personen.“ Die Tradition führen ihre Töchter Ingrid und Renate jetzt weiter.
Gern wuselte sie in Vaters Garten. „Wenn meine Mutter Rotkraut zubereitete, zankten wir Kinder uns um die Strünke. Rohes Zeug esse ich gerne wie Weißkraut, Kohlrabi, Möhren. Auch Obst. Der Rest wurde eingemacht.“
Fast ungläubig klingt es: „Ab und zu habe ich auch eine Lord geraucht.“
Seit fast zwei Jahren wohnt Erna Jenke also im Seniorenhaus Grotehof, fühlt sich wohl. Besonders im Sommer, wenn der Rosengarten leuchtend blüht. „Dann sitzt Mutter immer neben Herrn Anton“, wissen die Töchter. Sie korrigiert: „Nein, Herr Anton sitzt neben mir…“
Klar, rote Rosen soll es auch nächstes Jahr auf dem Geburtstag von Erna Jenke wieder regnen. Wenn die Töchter, zwei Schwiegersöhne, fünf Enkel, sieben Urenkel ihr gratulieren. Spitzbübisch meint sie: „Mein Leben fängt neu an. Mit der Eins!“

Fotos: Michael Gohl / West Anzeiger

Autor:

Ingrid Schattberg aus Essen-West

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