Hilfe! Es kippt...
Beim Aufstellen der Ausstellung im Kunstraum Notkirche, 9. Juni, kippte es gefährlich…
Leichtfüßig steigt Annette Quast die große Leiter hoch. Mit der rechten Hand umklammert sie einen Hammer, mit der linken Hand versucht sie das große Bild mittig zu schieben. Zehn Augenpaare starren auf die gerade noch nackte Wand. Fünf Künstlerinnen treten Schritte zurück. Annette Quast, Kunsthistorikerin MA, biegt ihren Körper auf der Leiter etwas zur Seite. „Aufpassen. Es kippt…!“
Schwerstarbeit vor einer Ausstellung ist das Aufhängen, Aufstellen der Kunstobjekte. Was bei der Vernissage am 9. Juni, Kunstraum Notkirche, 18 Uhr, so anziehend an Wänden und auf dem Boden lockt, kostet vorher immense Zeit. Perfektes augenblickliches Augen-Maß ist Muss. Die Werke sollen wie angegossen die Betrachter in Bann ziehen.
Deshalb überlassen die Künstlerinnen Gisela vom Schemm, Ulrike Eggers, Ingrid Geyer, Erika Gerhorst, Beate Über-Lange nichts dem Zufall. Zusammen mit der Kunsthistorikerin – die übrigens standfest die Leiter-„Kletter“-Partie schaffte, müssen die Kunstobjekte perfekt platziert werden für „Es kippt…“
Jeder stand schon vor der Situation, von jetzt auf gleich, dass die Sache aus dem Ruder laufen kann. Durch Kippen. „Der Moment, den man meist nicht steuern kann und versucht, die Situation auszubalancieren...“, so Quast. Beispiel? „Man sitzt auf einem Stuhl. Da kommt einer vorbei, ein Schub – Zack. In dem Moment, wo man kippt, fühlt man schon den Schmerz. Es gibt Menschen, die brauchen sehr starke Stabilität, wiederum andere, die ganz gut mit Unstabilität leben können…“
Das Thema „Kippen“ beflügelte künstlerisch intensiv die Ausstellerinnen, die seit Jahrzehnten befreundet sind. Mit total unterschiedliche Lösungen - auch aus fünf verschiedenen Lebenssituationen. Sehr spannend.
Beate Über-Lange verdeutlicht: „Mit ist wichtig, dass das Kippen einen ganz positiven und vitalen Aspekt hat. Denn die Stabilität ist eine statische Haltung. Wenn man bereit ist, sie preiszugeben, kann ich damit Spielen. Ich werde lebendig. Wie beim Balancieren, Schaukeln…“ Schwärmerisch blickt sie in den Kunstraum. „Er bietet die Möglichkeit aufgrund der Räumlichkeiten, als Gruppe zu arbeiten; ein Thema zu entwickeln, dass jeder dazu seine Facetten präsentiert. Wir sind auch interessiert, dass die Betrachter ihre eigenen Kipp-Ideen hierbei entzünden; an Kommunikation – was sie denken, erlebt haben. Was für die Besucher Kipp-Situationen sind.“
Sprachlos macht mich die Bilder-Geschichte von Beate Über-Lange. „Ich zeige eine Begegnung in St. Petersburg mit einem Mann. Ein Obdachloser. Erster Gedanke: Dreckiges, schmutziges, stinkendes Etwas. Plötzlich kippte meine Betrachtungsweise. Ich hatte das Gefühl, dass ich ihn auf Wolken betten möchte. Im Nu sah ich ihn anders: Er war ja mal Kind. Seine Mutter hatte ihn auf Knieen geschaukelt. Also, immer noch ein wertvoller Mensch. Er schlief. Mit einem seligen Gesichtsausdruck, als würde er schon auf Wolken schweben. Aber er lag im Straßendreck.“ Vier zarte, weiche Arbeiten, mit Vlies, beweisen ihr „Kipp-Können“. Nachdenklich macht ihr Satz: „Wenn der Mann mitbekommen würde, dass Bilder von ihm - auf Wolken gebettet – hier in Essen in der Kirche hängen. Das ist doch Wahnsinn!“
Anders wiederum die Kipp-Aufarbeitung bei Erika Gerhorst. Durch den Tod eines Nahestehenden wurde ihr Leben total über den Haufen geworfen…
Die Arbeiten von Ingrid Geyen sind formalistisch. Klare, senkrechte Konstruktionen; dann eine, die in sich zusammenbricht. Wie Klötzchen von Kinderhand gebaut – die nach einem Windzug zum Haufen wird.
Gisela vom Schemm bevorzugt den Notkirche-Boden, auf dem viele kleine Päckchen liegen. Dazu gehört ein großer Koffer, geflochten mit rostigen Metallstreifen. Die Kipp-Flüchtlingssituation, die sie selbst erlebt hat, und die heute noch genauso an vielen Stellen der Welt stattfindet. Menschen verlassen ihre Habe, ihr stabiles Zuhause; begeben sich in eine unsichere Zukunft.
Ulrike Eggers Kreuze am Altar und mehrere Arbeiten auf der Empore sind als Gesamtkunstwerk zu verstehen mit Reliquien, Trophäen –also etwas „Heiliges“ – sowie Bohrkerne – Umkippen der Natur…
Lassen Sie sich bei „Es kippt“ herausfordern, inspirieren. Die Ergebnisse sind wahnsinnig kribbelig kreativ, wie die Persönlichkeiten der fünf Frauen.
Es kippt
Vernissage Sonntag, 9. Juni, 18 Uhr.
Begrüßung: Werner Sonnenberg, Pfarrer und Kunstkurator
Einführung: Annette Quast, Kunsthistorikerin MA
Musik: Rüdiger Scheipner, Saxophon
Dauer der Ausstellung bis 14. Juli 2013, Kunstraum Notkirche, Mülheimer Straße 70
Es kippt
- der bange Moment zwischen Stabilität und Kontrollverlust
- der lustvolle Spiel des Balancierens
- die Irritation wenn das Absurde in den Alltag einbricht
- die Sekunde von Stille bevor die Schaukel wieder nach unten saust
- die Angst vor dem Sturz
Fotos der Ausstellungs-Eröffnung: Michael Gohl / West Anzeiger Essen
Autor:Ingrid Schattberg aus Essen-West |
1 Kommentar
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.