Fast blind sehen
Wie bürokratische Hindernisse bei einem plötzlichen Sehverlust zu überwinden sind
Schleichend schritt der Sehverlust bei Sven Friedrich voran. Dem Fernseher rückte er immer näher, Texte musste er mit dem Handy fotografieren und dann die einzelnen Buchstaben heranzoomen. Mittlerweile tastet sich der 30-Jährige mit zwei Walkingstöcken durch schemenhafte Umrisse.
Bei der nicht heilbaren Krankheit Multiple Sklerose (MS) entstehen in Gehirn und Rückenmark Entzündungen, die verschiedenste neurologische Symptome verursachen können. Viele Erkrankte leiden auch an einer Entzündung des Sehnervs. Untypisch ist jedoch, dass, wie bei Sven Friedrich, beide Augen auf einmal betroffen sind – eine Umgewöhnung an das stark eingeschränkte Sehen ist somit besonders schwierig. "Im März 2016 habe ich das letzte Mal gearbeitet", sagt Friedrich, der bei einem großen Lebensmitteldiscounter angestellt ist, "mittlerweile bin ich ausgesteuert, bekomme Arbeitslosengeld I und meine Frau muss arbeiten." Doch der Vater einer zweijährigen Tochter will unbedingt wieder beruflich aktiv werden. Als Kassierer ist das eigentlich auch leicht zu verwirklichen, ermöglichen spezielle Lesegeräte doch eine so starke Vergrößerung, dass auch Kassenquittungen damit leicht zu lesen sind. Solch ein Gerät kostet wenige tausend Euro – Beträge, die Friedrichs Arbeitgeber auch bereit ist, für einen motivierten Mitarbeiter zu zahlen.
Ausrüstung ermöglicht Berufsausübung
Probleme bereitet hier eher die deutsche Bürokratie. Ist der Antrag auf Teilhabe vom Arbeitsamt endlich genehmigt, kann mit der beruflichen Rehabilitation begonnen werden. In Kleingruppenschulungen werden die kürzlich (teil-)erblindeten Patienten auf ihren Arbeitsalltag vorbereitet, sodass eine stundenweise Wiedereingliederung in den Beruf möglich ist. Damit diese stattfinden kann, müssen der Integrationsfachdienst (Ifd) und das Berufsförderungswerk (bfw) die benötigten Geräte ermitteln, die die jeweiligen Kostenstellen dann bewilligen – erst dann ist der Weg für den arbeitswilligen Sehbehinderten frei. Für MS-Patient Sven Friedrich öffnet sich dann ein weiterer Pfad. Bereits 2015 hat er eine nebenberufliche Ausbildung zum Handelsfachwirt begonnen, konnte die Prüfung wegen seiner starken Sehminderung jedoch nicht bestehen.
"Im Unterschied zu beispielsweise Gehbehinderungen gibt es für Sehbehinderte keine kompakten stationären Maßnahmen", ärgert sich Dr. Barbara Schaperdoth-Gerlings, Oberärztin in der Sehbehindertenambulanz, "die Patienten müssen sich ihre einzelnen Behandlungen zusammensuchen und fallen alleingelassen oft in ein tiefes Loch."
Möglichkeiten von Tablet, Smartphone und Co.
Viele Patienten wissen nicht, welche Möglichkeiten und Rechte sie eigentlich haben. Zudem gibt es mittlerweile auch Hilfsmittel, die im App- oder Play Store zu erstehen sind. "Handys und Tablets bieten viele Möglichkeiten", weiß Schaperdoth-Gerlings, "das ist vielen gar nicht bewusst." Der Sehbehindertentag, der am Samstag, 10. Juni, von 9.30 bis 16 Uhr im Haus der Technik, Hollestraße 1, stattfindet, bietet eine Plattform, auf der Patienten mit Hilfsmitteln in Berührung kommen. Mit dabei sind Optiker, Technikfirmen und Selbsthilfegruppen, die aufklären, welche Maßnahmen und Hilfen dem Patienten rechtlich zustehen. Auch Sven Friedrich hat Anspruch auf weitere Hilfsmittel. Die Walkingstöcke soll der Borbecker nämlich bald zu Hause lassen – und mit einem kassenbewilligten Langstock den Weg zu Bahnhof, Kindergarten und Arbeitsstätte finden.
Autor:Julia Hubernagel aus Essen-Süd |
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