Medizintourismus in Essen: „All inklusive“ oder „Holzklasse“
Anabel Jujol (Schöner Links-Ratsfrau) läuft beim Gedanken an den Medizintourismus mehr als eine Laus über die Leber. Ein Beitrag zu internationalen Patienten und Medizinflüchtlingen, gesundgeschrumpften Kommunen und Selbstheilungskräften freier Märkte.
Sachpolitik orientiert sich an den Selbstheilungskräften freier Märkte und ist damit selbstverständlich erhaben über jeden ideologischen Verdacht (hüstel).
Ganz in diesem Sinne hält Dr. Krüger vom Essener Bürger Bündnis (EBB) in der Juni-Ratssitzung ein leidenschaftliches Plädoyer für Essen als attraktive Metropole im Wachstumsmarkt Medizintourismus. Er spricht lieber von internationalen Patienten als von Touristen - er erkennt immerhin selber das Geschmäckle des Vokabulars – während er sichtlich verzückt von blühenden Essener Krankenhäusern ins Mikro schwärmt.
Nicht viel anders der neue Oberbürgermeister Thomas Kufen (CDU), der gleich in seiner Antrittsrede für sein Baby „Medizintourismus“ enthusiastisch geworben hatte.
Immerhin setzte OB Kufen erfolgreich durch, dass die Essener Wirtschaftsförderungsgesellschaft mbH (EWG) vom Essener Rat beauftragt wurde, unter Beteiligung der Aktionsgemeinschaft „Essen forscht und heilt“, ein Konzept zum Thema „Medizintourismus / Internationale Patienten“ zu entwickeln.
In der Vorlage heißt es: „Im Rahmen dieses Konzeptes soll insbesondere ein breitgefächertes Kommunikationskonzept (u.a. mit mehrsprachigen Online-und Printmedien, Kongresswerbung, Messe-auftritten) entwickelt werden. Internationale Patienten sowie deren Begleitpersonen sollen neben den klinischen auch Betreuungs-und Dolmetscher-Angebote und eine Orientierung im Hinblick auf kliniknahe Übernachtungsmöglichkeiten erhalten. Informationen zu Freizeit- und Einkaufsmöglichkeiten, zur Nutzung des ÖPNV sowie Anreisemöglichkeiten sind ebenfalls zu erstellen. Die Medien könnten durch Einkaufs-, Restaurant-und Museumsgutscheine o. ä. aufgewertet werden.
Das Konzept ist dem Rat der Stadt bis zum 30. September 2015 zur Beschlussfassung vorzulegen.“
Mit knapp 3/4 Jahr Verspätung wurde jetzt das Thema in der letzten Ratssitzung aufgegriffen und soll nach der Sommerpause verabschiedet werden.
In der Zwischenzeit berichten NRZ und WAZ von unschönen Auseinandersetzungen zwischen dem Krupp-Krankenhaus und dem Kuwaitischen Konsulat rund um „Wucherpreise“ und „Zechpreller“. Es geht um mehr als 600.000,- Euro an offenen Posten und hunderte von kranken Kuwaitis, die im Essener Krupp-Krankenhaus behandelt wurden.
In einer Randnotiz zum Artikel der NRZ heißt es, dass Branchenkenner in Essen davon ausgehen, dass sich der Medizintourismus aus Osteuropa positiv entwickelt, während die Zahlungsmoral arabischer Staaten zu wünschen übrig lasse.
Rückblick: Seit 1992 dürfen Krankenhäuser Gewinne machen, das später eingeführte DRG System bildet medizinische Leistungen für die Abrechnung ab. Die neoliberalen Reformen haben das deutsche Gesundheitssystem auf Wettbewerb getrimmt. „Ärzte können heute nicht mehr frei entscheiden, wie sie ihre Patienten behandeln. Sie wählen immer öfter jene Therapien, die am meisten Geld einbringen. Weil sie glauben, sie müssten so handeln. Weil die Klinikchefs entsprechende Vorgaben machen. So bekommen Patienten ein neues Kniegelenk oder eine neue Hüfte, obwohl es nicht nötig wäre. Oft werden sie danach auch noch früher aus der Klinik entlassen, als es aus medizinischer Sicht ratsam wäre“, hieß es in der Zeitung „Die Welt“ vom 30.11.2014 (Link: http://www.welt.de/print/wams/article134857499/Pauschales-Versagen.html). Das Blatt ist sicherlich erhaben über den Verdacht linksideologischer Ausrichtung.
Wen wundert´s, wenn ein auf Konkurrenz ausgerichtetes Angebot versucht, neue (globale) Märkte zu erschließen. Mit internationalen Patienten können Krankenhäuser die maroden Kassen füllen. Und ganz im Geiste des Kapitalismus kommt das sicherlich irgendwann allen zu Gute...bestimmt...irgendwann.
Während also „Rundum-Wohlfühl-Pakete“ für den Kuwaiti mit anstehender Nierentransplantation kreiert werden, sieht es für den mazedonischen Armutsflüchtling mit Niereninsuffizienz ganz anders aus.
Nach einem Fit-for-Fly-Gutachten durch einen Mitarbeiter des städtischen Gesundheitsamtes wird er, gerne des Nachts, in seine „sichere“ Heimat „zurückgeführt“. Als Roma kann er dort ohne Zugang zu Sozial- oder Krankenversicherung auf die Prophezeiung der Selbstheilungskräfte des Marktes hoffen, die irgendwann Segen über ihn ausbreiten; im Zweifelsfall hofft er auf seine eigenen. Denn mehr bleibt ihm nicht.
European Homecare (EHC) verweigerte jüngst einer syrischen Bewohnerin eines Zelt“dorfes“ mit Verdacht auf Eileiterschwangerschaft Hilfe beim Krankenhausbesuch und schickte sie kurzerhand alleine (ohne Dolmetscher oder sonstige Begleitperson) zur Untersuchung ins Krankenhaus. Die Aufklärung der Patientin über die mögliche Lebensgefahr fand mit Händen und Füßen statt und verängstigte die Schwangere nachhaltig. Im Verlaufe der weiteren Behandlungen (stets ohne Dolmetscher oder Begleitung) erlitt sie eine Fehlgeburt, unter Umständen, die sie als schwer traumatisierend beschreibt.
Auch sie hat Beschwerde beim Krankenhaus eingereicht und EHC, den Betreiber des Zelt“dorfes“ um eine Stellungnahme gebeten. Allerdings ohne einen einflussreichen Generalkonsul im Rücken oder den begeisterten Einsatz des Essener Oberbürgermeisters für internationale Patienten (Stichwort: Dolmetscherservice).
Schöner Links fast zusammen: Während die Essener Verwaltung entschieden hat, dass die Krankenversichertenkarte für Flüchtlinge zu kostenintensiv ist und dieses Argument alle Vorteile (schnellerer und unkomplizierten Zugang zur medizinischen Versorgung) für die Patienten aushebelt (finanzpolitische Argumente sind stets „vernünftige“ Argumente – so das scheinbar ideologiefreie Credo des Oberbürgermeisters und seines Sozialdezernenten), wird von der Essener Wirtschaftsförderungsgesellschaft ein Konzept kreiert, um ausländischen Geldeliten ein medizinisches Rundum-Sorglos-Paket mit touristischer Rahmenhandlung zu bieten.
Global denken, kommunal handeln?
Besonders in Osteuropa sind nationale Gesundheitssysteme am Boden und sind verarmte Bevölkerungsteile, insbesondere ethnischen Minderheiten von der Daseinsversorgung ausgegrenzt – wenn dort die reicheren Patienten abwandern, entsteht vor Ort keine Nachfrage für entsprechende Strukturen, die von den Eliten mitfinanziert werden. Medizintourismus lähmt letztlich die Entwicklung moderner, medizinischer Versorgungsstrukturen vor Ort in den Herkunftsländern und fördert (zumindest indirekt) die Flucht vor Armut und Krankheit.
Dass Essen sich in diesem Kreislauf als Multiplikator und Global Player im Medizintourismus betätigen möchte und gleichzeitig stöhnt und ächzt, weil so viele Geflüchtete versorgt werden müssen ist bemerkenswert.
Der Norden ist voll?
Wer sich in anderen NRW Kommunen umhört und die Erfahrungen mit Medizintourismus auswertet, stößt auf eine nicht unerhebliche Problematik - siehe das Beispiel Bonn Bad Godesberg: Die Gemeinde hat langjährige Erfahrungen. Dort haben auch die Immobilienmakler den freien Markt für sich entdeckt. Die Medizintouristen bleiben oft inklusive umfangreicher Begleitung durch Angehörige über Wochen in der Stadt, wohnen temporär in überteuerten, luxuriös ausgestatteten Appartements und belasten damit den regionalen Wohnungsmarkt erheblich. Kulturelle Probleme werden zudem von Rechten Parteien für ihre populistische Hetze aufgegriffen und instrumentalisiert.
Von all diesen Schattenseiten wird man nach der Sommerpause in Thomas Kufens Werbekonzept des Medizinstandorts Essen sicher nichts lesen.
Medizintourismus in Essen: Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker. Rosarote Brillen gibt es bei Schöner Links.
http://schoenerlinks.de/2016/06/28/medizintourismus-in-essen-all-inklusive-oder-holzklasse/
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Autor:Anabel Jujol aus Essen-Süd |
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