Klagewelle reißt nicht ab: 13602 neue Hartz-IV-Verfahren seit Jahresbeginn

Jüngste Veröffentlichungen der Sozialgerichte NRW zeigen für das erste Halbjahr einen Zugang von 13602 Klagen gegen Hartz IV-Bescheide.

Allein beim Sozialgericht in Dortmund sind derzeit von insgesamt 62 Kammern allein 19 Kammern nur mit der Grundsicherung für Arbeitsuchende beschäftigt, 11 Kammern bearbeiten den Bereich der Arbeitsförderung.
Pressemappe des Sozialgericht Dortmund

Auffällig ist, dass die Veröffentlichungen der Zahlen ohne jeden Versuch einer Hintergrundbewertung auskommen. Wer oder was ist aber verantwortlich für diese Klageflut gegen Leistungsbescheide der Jobcenter?

Existenzminimum

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Regelsatzentscheidung vom 09.02.2010 festgestellt, dass die Ermittlung des Existenzminimums unzureichend ermittelt wurde. Zur Sicherstellung eines zwingend zu deckenden, menschenwürdigen Existenzminimums ist, der tatsächliche Bedarf aber realitätsnah zu ermitteln.
„Der Gesetzgeber hat bei der Neuregelung einen Anspruch auf Leistungen zur Sicherstellung eines unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen, besonderen Bedarfs für die nach § 7 Sozialgesetzbuch Zweites Buch Leistungsberechtigten vorzusehen, der bisher nicht von den Leistungen nach §§ 20 folgende Sozialgesetzbuch Zweites Buch erfasst wird, zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums jedoch zwingend zu decken ist.“ BVerfG, 1 BvL 1/09, 09.02.2010

Seit der Einführung von Hartz IV und trotz aller vorgegaukelten „Regelsatz-Erhöhungen“ ist die Kaufkraft kontinuierlich gesunken und wurde nie an die tatsächlichen Lebenshaltungskosten angepasst. Die Regierungen haben mit jedem Jahr schleichend das soziokulturelle Existenzminimum heruntergestuft, was auch als Missachtung der höchstrichterlichen Rechtsprechung bewertet werden kann.

Hartz IV-Klagen verkörpern den Kampf um die Existenzsicherung.

Unabhängige Informationsmöglicheiten

Trotz eines klaren Beratungsauftrages kommen viele Jobcenter ihren Informationspflichten nur unzureichend nach. Für gewöhnlich werden Leistungsberechtigte über Internetforen, Chatrooms und soziale Netzwerke besser und umfangreicher auf ihre Rechte hingewiesen, als durch die dafür bezahlten Behördenmitarbeiter. Aber nur, wer seine Rechte kennt, kann diese einfordern.

Versagen der Qualitätssicherung

Aber selbst wenn die Leistungsberechtigten Anträge auf verschiedene Leistungen bei ihrem Jobcenter stellen, werden diese zuhauf abgewiesen, mit nachgeforderten Belegen überfordert oder die Annahme der Anträge wird gleich als aussichtslos verweigert. Aber auch über mündlich gestellte Anträge, muss die Behörde einen schriftlichen Bescheid erlassen. Und bei ablehnenden Bescheiden ist binnen vier Wochen ein Widerspruch möglich.

Anstelle einer unabhängigen rechtlichen Bewertung, sind allerdings die Widerspruchstellen der Jobcenter in diese integriert, d.h. Kollege entscheidet über Kollege. Und viele Menschen lassen sich mit abweisenden Widerspruchsbescheiden einschüchtern.

Kompetente Widerspruchsbearbeitung würde die Zahl der Klagen bereits deutlich reduzieren.

Einsparwut der Geschäftsführer

Jobcenter-Mitarbeiter wissen oft ganz genau, dass sie ihre Schutzbefohlenen nur unzureichend informieren. Oft könnten sie den Leistungsberechtigten sogar detailliert vorrechnen, um wie viel Geld sie gerade getäuscht werden, weil man ihnen im Jobcenter nicht mitteilt, dass sie weitere Leistungen beantragen könnten. Dies fängt bei Bewerbungskosten an, betrifft z.B. Fahrtkostenerstattung zu Jobcenterterminen, Warmwasserkosten und verschiedene Freibeträge. Und manche Behördenmitarbeiter möchten helfen, wären da nicht die internen Anweisungen und Sparzwänge einiger Geschäftsführungen.

In nicht wenigen Fällen, provozieren Jobcenter Wiederholungsklagen und weitere Folgekosten, obwohl sie bereits in gleicher Sache schon zur Zahlung verpflichtet wurden. Es darf bestritten werden, dass solche vorsätzlichen Falschentscheidungen von den Mitarbeitern der Widerspruchstelle zu verantworten sind.

Bildungs- und Teilhabepaket

Ein stetig wachsender Bereich der Hartz IV-Klagen betrifft die Kinder. Anstatt die Bedarfe aller betroffenen Kinder durch die Erhöhung einer Zahl einmal im Jahr anzupassen, hat die Regierung die Bedarfe in mehrere Einzelansprüche aufgeteilt für die zweimal jährlich weitere Anträge zu stellen sind. Während manche Kommunen mit 2-5 Seiten für Anträge und Informationsmaterial auskommen, hat es der Märkische Kreis auf stolze 25 Seiten Papier gebracht. Da wundert es nicht, wenn die Kosten für diese sinnlose Verwaltung höher liegen als der Nutzen für die Betroffenen.

Kammerflimmern

Die oft langjährigen Gerichtsverfahren leiden auch darunter, dass bei der Sozialgerichtsbarkeit ein regelrechtes „Kammerflimmern“ zu beobachten ist. Richter XY wird eine Klage zugewiesen. Der Richter wechselt in einen anderen Bereich, die nächste Kammer nimmt die gleiche Klage in die Hand und ändert zuerst das Aktenzeichen. Aus „S 98 AS 258/06“ wird mit den Jahren z.B. „S 89 (59, 98) AS 258/06“.

So müssen mehrere Richter die gleichen Akten in die Hand nehmen, was die Verfahrensdauer weiter verlängern kann.

Rechtsschutzbedürfnis

Viele Klageverfahren könnten zudem eingespart werden, wenn die Politiker ihrer Sorgfaltspflicht nachgekommen wären und die Bürokratie entsprechend eingedämmt hätten. Stattdessen werden derzeit Bemühungen unternommen, den Sozialstaat massiv zu zersetzen und die Rechte der Bürger empfindlich zu beschneiden.

Wenn Unrecht zu Recht wird,
wird Widerstand zur Pflicht.

Bertolt Brecht

Autor:

Ulrich Wockelmann aus Iserlohn

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