Spitzenkandidaten im LK-Interview: Joachim Stamp
"Dreierbündnis ist denkbar"
Seit 2017 ist der promovierte Politikwissenschaftler Joachim Stamp NRW-Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration und stellvertretender Ministerpräsident. Genauso lange führt er als Nachfolger von Christian Lindner die Landes-FDP. Die Koalition mit der CDU würde er nach der Wahl gerne fortsetzen. Im LK-Interview macht er deutlich, dass es dann zum Beispiel in der Schulpolitik Verbesserungsbedarf geben würde. Und zeigt sich offen für Dreierbündnisse.
Der Krieg in der Ukraine ist eines der wichtigsten Themen dieser Zeit. Die FDP-Sicherheitsexpertin Marie-Agnes Strack-Zimmermann hat sich im Bund vehement für die Lieferung schwerer Waffen in die Ukraine eingesetzt. Große Teile der FDP stehen dahinter, gegen die Bedenken vieler, dass Wladimir Putin das als Eingriff in den Krieg bewertet und entsprechende Konsequenzen zieht. Jetzt wird Deutschland liefern und fast 50 Prozent der Bürger:innen sprechen sich dagegen aus. Ist die FDP hier zu weit gegangen?
Joachim Stamp: Wir stehen fest an der Seite der Ukraine. Ich finde, dass das, was der Bundestag nun beschlossen hat, ein wirklich gutes Zeichen ist. Wir müssen der Ukraine so viel Unterstützung wie nur möglich liefern, um Putins Vormarsch zu stoppen und damit auf einen Waffenstillstand hinzuwirken. Wir werden aber nicht aktive Kriegspartei und handeln auch weiterhin in enger Absprache mit unseren Verbündeten.
In NRW herrscht mit Blick auf den Kohleausstieg 2030 bislang Konsens. Hat das aus Ihrer Sicht angesichts der derzeitigen politischen Lage Bestand?
Joachim Stamp: Wir halten grundsätzlich am Ausstiegsziel 2030 fest, allerdings müssen wir bis dahin den Zeitplan etwas strecken. Um so schnell wie möglich von Russlands Energie unabhängig zu werden, sollte außerdem eine vorübergehende Laufzeitverlängerung der verbliebenen Kernkraftwerke geprüft werden. Die heimischen Unternehmen wollen wir auf dem Weg hin zur Klimaneutralität mit einer Transformationspartnerschaft für Innovation und Spitzentechnologie unterstützen. Wir wollen mit öffentlichen und privaten Mitteln insgesamt 75 Milliarden mobilisieren, um den Transformationsprozess in NRW zu gestalten.
"Windenergie mindestens verdreifachen"
Was konkret bedeutet das für den Ausbau der erneuerbaren Energien in NRW? Als größtes Bundesland liegen wir zum Beispiel in Sachen Windenergie mit 8,5 Prozent im Bund an vierter Stelle. Die FDP und die CDU haben gesagt, dass sie den Anteil bis 2030 verdoppeln wollen. Das Landesamt für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz NRW (LANUV) bezweifelt in seiner jüngsten Studie die Machbarkeit des Vorhabens, vor allem, weil Schwarz-Gelb an der Abstandsregel festhält. Ihr Wirtschafts- und Energieminister Andreas Pinkwart schweigt dazu. Was sagen Sie?
Joachim Stamp: Zunächst ist festzuhalten, dass unter Energieminister Pinkwart der Ausbau der Erneuerbaren Energien massiv gestiegen ist und wir bei Windkraftausbau und bei Photovoltaik viel stärker sind als das von Grünen regierte Baden-Württemberg. Wir wollen weiter vorangehen und den Windenergieausbau verdoppeln sowie die Photovoltaik sogar mindestens verdreifachen. Was die Abstandsregel angeht: Wir müssen alle Regeln im Baugesetzbuch auf den Prüfstand stellen und zu bundeseinheitlichen Rahmenbedingungen kommen. Trotzdem muss auch die Akzeptanz und Rechtssicherheit für die Energiewende gewahrt werden. Denn Klageverfahren verzögern den Ausbau. Das Entscheidende ist aber, dass wir Planungs- und Genehmigungsverfahren wesentlich beschleunigen.
Preise im ÖPNV senken
Wie wollen Sie die vereinbarten Klimaziele erreichen, Stichworte Ausbau Bahnstrecken- und Radwegenetz und ÖPNV?
Joachim Stamp: Wir setzen in der Verkehrspolitik auf Innovationen und Technologieoffenheit statt auf Verbote. Um Wahlmöglichkeiten zu schaffen, wollen wir alle Verkehrsträger stärken. Gerade die Infrastruktur im ländlichen Raum muss besser werden. Im ÖPNV setzen wir uns für ein digitales NRW-Ticket ein – auf diese Weise wollen wir Bürokratie abbauen und die Preise senken. Die Erreichbarkeit des ländlichen Raums wollen wir durch eine Ausweitung von On-Demand-Systemen wie Rufbusse massiv verbessern.
Schneller bauen
NRW ist nach wie vor Stauland Nummer eins. Neben dem Fahrzeugaufkommen ist dafür laut Verkehrsforscher Michael Schreckenberg auch der schlechte Zustand von Autobahnen und Brücken verantwortlich, weshalb es permanent zahlreiche Großbaustellen gibt. Der Experte sagt, dass dieses Thema von der Regierung in NRW „liegengelassen“ worden ist. Wie wollen Sie die Knoten künftig lösen?
Joachim Stamp: Wir brauchen dringend eine Halbierung der Planungs- und Genehmigungsverfahren. Die FDP hat das im Koalitionsvertrag im Bund durchgesetzt und das muss jetzt schnell umgesetzt werden. Das ist die Grundvoraussetzung. An vielen Brücken wie z.B. an der A45 stehen wir jetzt vor der großen Herausforderung, dass Infrastrukturprojekte nicht über viele Jahre gehen können, sondern dass diese mit allen Beteiligten so schnell wie möglich umgesetzt werden. Da muss jetzt auch in einem anderen Tempo gearbeitet werden. Im Bereich des Baustellenmanagements haben wir schon eine ganze Menge verändert. Aber wir wollen weiter dafür sorgen, dass schneller gebaut wird.
Wohnraum durch "Hochhinaushäuser" schaffen
Ein weiteres sich vielerorts zuspitzendes Problem sind Baukosten- und Mietpreissteigerungen. Die Landesvorsitzende des Wohlfahrtsverbandes Paritätische NRW hat in den letzten Tagen von einem „echten Armutsrisiko“ für viele Menschen gesprochen. Was wollen Sie dagegen unternehmen?
Joachim Stamp: Bezahlbares Wohnen ist in der Tat eine der größten Herausforderungen unserer Zeit. Gegen die gestiegene Nachfrage gerade in den Städten hilft nur eines: Mehr Bauen. Wir wollen mehr Wohnraum schaffen – sowohl durch Neubau, als auch im Bestand. Wir haben zum Beispiel vorgeschlagen, dort, wo die Verdichtung groß ist, sogenannte „Hochhinaushäuser“ zu bauen. Das sind Hochhäuser nach höchsten ökologischen und städtebaulichen Standards. Wir wollen aber auch gerade jungen Familien den Weg zum Eigenheim erleichtern: Durch unser 400-Millionen-Sofortprogramm haben wir einen ersten Schritt gemacht. Nun muss der Freibetrag bei der Grunderwerbsteuer schnellstmöglich kommen. Und schließlich setzen wir auf ein bürokratiearmes Flächenmodell bei der Grundsteuer – das schützt Mieterinnen und Mietern vor Kostensteigerungen bei den Nebenkosten.
Mehr Geld für Lehrkräfte
In NRW rechnet man bis 2030 mit einem Zuwachs von 320.000 Schülern. Bereits heute fehlen 5.000 Lehrkräfte und bis 2025 wird es laut Expertenschätzung 26.000 weniger Absolventen für den Grundschulbereich geben. Eigentlich sind Sie sich mit der CDU und anderen Parteien längst einig, dass ein Teil der Lösung im Anheben der Besoldung von Lehrkräften in Grundschulen und Sekundarstufe eins besteht. Warum wurde das bisher nicht umgesetzt und was wollen Sie in der nächsten Legislaturperiode unternehmen?
Joachim Stamp: Wir haben 2017 von Rot-Grün eine gigantische Lücke bei der Lehrerversorgung geerbt. Hier haben wir schon einiges aufgeholt, aber es gibt eben auch noch einiges zu tun. Im Vergleich zu 2017 arbeiten heute schon 13.300 Menschen mehr in den Schulen. Wir wollen aber auch noch mehr Studienplätze schaffen und Quereinstiege ins Lehramt ermöglichen. Für uns hat jede Lehrerin und jeder Lehrer Anspruch auf eine gleiche Bezahlung. Wir wollen die Einstiegsbesoldung der Lehrkräfte anpassen und eine faire Lösung für die Bestandslehrkräfte mit einem entsprechenden Stufenplan. Das war in der vergangenen Legislaturperiode mit der CDU noch nicht möglich – wir setzen uns weiterhin dafür ein.
Insbesondere Elternverbände und Schüler:innen beklagen „Chaos“ in Sachen Digitalisierung der Schulen, das vor allem während der Lockdowns sichtbar wurde. Ihre Ministerin Yvonne Gebauer steht diesbezüglich seit Jahren in der Kritik. Wie wollen Sie diese Prozesse verbessern und beschleunigen?
Joachim Stamp: Wir haben in Sachen Digitalisierung in den Schulen schon einiges erreicht. Die Corona-Pandemie hat hier einen zusätzlichen Schub gegeben – aber auch offengelegt, wo wir noch Nachholbedarf haben. Unser Ziel ist klar: Wir wollen ein Laptop oder ein Tablet für jedes Kind und jede Schülerin und jeder Schüler soll am Ende der Schulzeit eine App programmiert haben. Das ist unser Anspruch. Damit das gelingt, wollen wir vor allem bei der Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte ansetzen.
Wohnen und Schule sind auch wesentliche Bereiche für die Aufnahme und Integration von Flüchtlingen. Bereits jetzt sind mehr als 130.000 Menschen aus der Ukraine zu uns gekommen und es werden deutlich mehr erwartet. Was kann und wird NRW für diese Menschen tun, auch über die genannten Bereiche hinaus?
Joachim Stamp: Kommunen und Ehrenamtliche haben hier Herausragendes geleistet. Auch die Steuerung seitens des Landes hat gut funktioniert. Die meisten der Geflüchteten wollen so schnell wie möglich zurück in ihre Heimat. Ich mache aber immer wieder deutlich, dass sie alle so lange hierbleiben können, wie sie wünschen. Diejenigen, die bleiben, wollen wir schnell integrieren.
Krankenhäuser: reduzieren, konzentrieren
Thema Gesundheit: Ver.di und verschiedene Experten sehen mit dem Krankenhausplan der schwarz-gelben Landesregierung die bedarfsgerechte und wohnortnahe Versorgung von Patienten in NRW gefährdet. Eine wichtige Rolle spielt aus ihrer Sicht dabei die zunehmende Privatisierung von Kliniken und werfen Ihnen „Zerstörung durch Zentralisierung“ vor. Müssen Sie umsteuern?
Joachim Stamp: Wir stehen für eine qualitativ hochwertige, flächendeckende und wohnortnahe Gesundheitsversorgung, gerade auch im ländlichen Raum. Die Reform der Krankenhausrahmenplanung wollen wir vor Ort konkret umsetzen und zukunftsfähige Krankenhausstrukturen schaffen. Dabei wollen wir die Behandlungsqualität verbessern, indem wir komplexe Leistungen an besonders geeigneten Standorten konzentrieren, ineffiziente Doppelstrukturen in Ballungszentren reduzieren sowie Kooperationen von Krankenhäusern sowohl mit Krankenhäusern als auch mit niedergelassenen Ärzten und Rehabilitationskliniken fördern. In unter- und schlechtversorgten Gebieten soll die Gründung von Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) für Kommunen flexibler und unbürokratischer werden. Mir ist wichtig, auch Kinderkrankenhäuser zu erhalten und zu stärken.
Corona: "Weg zu Freiheit ist verantwortbar"
Stichwort Corona: Auch hier wird Ministerin Gebauer massiv kritisiert. „Konzeptlosigkeit“ ist einer der Vorwürfe, zuletzt wiederholt nach den Osterferien, als es kein Testkonzept für die Rückkehrer gab. Was sagen Sie den verunsicherten Schülern, Lehrern und Eltern?
Joachim Stamp: Als FDP haben wir schwerwiegende Grundrechtseingriffe mitgetragen in einer Zeit, in der es für den Gesundheitsschutz notwendig war. Sogar der Expertenrat der Bundesregierung hat von der Fortsetzung dieser Tests abgeraten, auch die Kinderärztinnen und Kinderärzte. Grundsätzlich gilt: Der Weg zu Freiheit und Normalität ist jetzt verantwortbar. Sollte es die unwahrscheinliche Situation einer schweren Virusvariante geben, kann die Politik sämtliche Maßnahmen innerhalb einer Woche wieder einführen. Wir können die Bevölkerung kurzfristig schützen.
Mallorca-Affäre: "Durchinszenierte Empörung"
Für die Opposition ist das Thema „Mallorca-Affäre“ mit dem Rücktritt der ehemaligen Umweltministerin Ursula Heinen-Esser noch nicht beendet. Sie sieht auch Bauministerin Ina Scharrenbach (CDU) in der Verantwortung, die während der Flutkatastrophe zu den Gästen von Frau Heinen-Esser gehörte. Wie sehen Sie das?
Joachim Stamp: Diese Schlammschlacht und diese durchinszenierte Empörung – sowohl von CDU als auch von SPD – empfinde ich als beschämend. Wir haben hier in NRW mit den enormen Preissteigerungen, der Bewältigung der Transformation und der Aufnahme der aus der Ukraine Vertriebenen große Herausforderungen, die müssen wir angehen.
Wenn man sich die jüngsten Wahlumfragen anschaut, würde Ihre Partei demnach etwa acht Prozent der Stimmen erzielen und nicht mitregieren. Spüren Sie da Folgen der derzeit bundesweit negativen Bewertung der Arbeit von Finanzminister Christian Lindner?
Joachim Stamp: Wir erleben aktuell steigenden Zuspruch, gerade auch im laufenden Wahlkampf. Und auch Christian Lindner hat hohe persönliche Zustimmungswerte – zu Recht, wie ich finde. Er hat auf die aktuelle Krise angemessen reagiert und Entlastungen für die Bürger auf den Weg gebracht.
Falls es am 15. Mai nicht reichen sollte: Viele Beobachter halten auch in NRW die Ampel oder aber Jamaika für sehr wahrscheinlich. Was wäre Ihre Wunschkoalition?
Joachim Stamp: Wir stehen für eine wachstumsorientierte Wirtschaftspolitik und weniger Bürokratie, in der Bildungspolitik für individuelle Förderung und Schulvielfalt statt Gleichmacherei, für Bürgerrechte und gegen Freiheitsbeschränkungen auf Vorrat. Wenn wir diese Politik fortsetzen können, ist auch ein Dreierbündnis denkbar. Unser Ziel ist es, so stark zu werden, dass gegen uns keine Regierung gebildet werden kann, damit NRW weiter nach vorne kommt und nicht wieder zurückfällt.
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