Die Geschichte einer Meise

Die Meise...

Ich habe bei der Durchsicht alter Bilder Fotos von einer Kohlmeise im Käfig gefunden.

Die Geschichte dazu:

Es ist bereits einige Jahrzehnte her, als mein Bruder, damals noch im Grundschulalter, mit einer aus dem Nest gefallenen Meise nach Hause kam.
Sie hatte bereits ein spärliches Federkleid, aber noch das Gelbe am Schnabel. Wir steckten das arme Vögelchen erst einmal in einen Käfig und waren ratlos. Sobald wir an seinen Schnabel stupsten, rieß er ihn bis zum Anschlag auf.

Meine Mama ist in die Zoohandlung gefahren und hat "Kanariengold" gekauft. Das war ein Aufzuchtfutter, welches mit Wasser zu einem Brei verrührt wurde.
Aber wie befördern wir den Brei in den Schnabel? Beherzt haben wir kleine Kugeln gedreht und sie einfach reingestopft. Mit Hilfe einer Pipette wurde Wasser nachgespritzt. Sie hat es geschluckt. Wir wurden immer routinierter und wechselten uns ab, das kleine Tierchen zu füttern. Mama, mein Bruder, meine Schwester und ich. Wir nannten ihn "ITZIBI" wegen der Geräusche, die Meisen machen.

Er wuchs rasch und wir mussten uns Futteralternativen überlegen. Mehlwürmer. Die haben wir auch in der Zoohandlung bekommen. Eine Dose voll Mehlwürmer. Wenn man die Dose geöffnet hat, hingen die Viecher alle am Deckel. Ekelhaft.
Mit der Pinzette haben wir die Würmer aus der Dose genommen und vor Itzi gelegt. Er legte den Kopf schief und stürzte sich auf den davon kriechenden Wurm.
Leider war er noch recht unbeholfen und kein Meister im "Würmer erlegen". Der Wurm schlängelte sich einfach um seinen Schnabel und Itzi verlor den Kampf, indem er einfach umkippte. So ging das also nicht.

Mama ist ja vom Land und hat kurzerhand den Wurm zerteilt, die Teile mit der Pinzette aufgenommen und in den hungrigen Schnabel gesteckt. Es schmeckte ihm!

Er war dann in der Lage, kleine Wurmstückchen allein aufzupicken. Wir hatten unsere helle Freude an ihm. Schnell war er schon eine stattliche Meise. Nach und nach lernte er, auch lebende, davonkriechende Würmer zu verspeisen.
Die beiden Wellensittiche, Pinki und Pucky, waren sehr interessiert an der kleine Meise und krochen ständig auf seinem Käfig herum. Er war auch interessiert.
Unerfahren, wie Kinder sind, haben wir Itzi einfach mal in den Wellensittichkäfig gesteckt. Die Mistböcke haben dem Kleinen die Federn ausgerupft und nach ihm gehackt!

Er musste sein Dasein weiter allein im Käfig fristen. Wir haben einen Meisenring gekauft - auch das schaffte er inzwischen allein.
Mama meinte, wir müssen dem Kleinen seine Freiheit geben. Das wollten wir nicht und haben geheult.

Wir entliessen ihn aus den Käfig, damit er Flugversuche unternehmen kann.
Auch hier mussten wir ihm helfen.
Wir warfen ihn immer ein Stückchen in die Luft und er flatterte. Ganz seiner Meisennatur entsprechend, wurde er immer neugieriger und eines Morgens war er verschwunden. Ganz traurig machten wir uns auf die Suche, fanden ihn auch erschöpft im Garten und trugen ihn in seinen Käfig.

Nichtsdestotrotz mussten seine Flugversuche ausgedehnter werden. Wir liessen ihn nicht aus den Augen. Er flog immer perfekter.

Die Zeit des Abschieds nahte. Eines Tages kam er von seinem Flug nicht zurück. Wir waren traurig, aber meine Mama meinte, er wird sicher glücklich.

Man denkt, jede Meise sieht gleich aus - aber nicht unser Itzi. Wir hätten ihn immer wieder erkannt.

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Im nächsten Frühjahr, wir haben nur noch selten an ihn gedacht, macht Mama morgens die Haustüre auf.
Eine Meise kommt sofort in den Hausflur geflogen - auf der Wäscheleine sassen - ganz wacklig - einige kleine Meisen, die "unserer Meise" folgten. Itzi war wieder da und hat uns seine (ihre?) Kinder gezeigt.
Das war einer der schönsten Augenblicke in meinem Leben.
Was haben wir uns gefreut! Natürlich wurde ab dem Zeitpunkt gefüttert. Und bis heute - mehr als 30 Jahre später - kommen immer noch Meisen und fordern ihre Erdnüsse.

Autor:

Beatrix Gutmann aus Essen-Süd

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