Wenn Bücher Wirklichkeit werden - Sommer in Cornwall
Wenn es darum geht, von schönen Reiseerinnerungen zu erzählen, fallen mir spontan ganz sicherlich immer einige unserer Familienurlaube in Großbritannien ein. Eine ganz spezielle Erinnerung führt mich dabei immer wieder in meinen Gedanken nach Cornwall, diesen wildromantischen Zipfel im Südwesten Englands, der mit Naturschönheiten nicht geizt: der liebliche Süden mit seinen tropisch anmutenden Gärten und geschützten Meeresbuchten, der nicht umsonst “Cornish Riviera” genannt wird und der etwas rauhere Norden mit seinen schroffen Klippen, aber auch weiten Sandstränden, und alles umrundet von dem Küstenwanderweg, auf dem man auch in der Hauptsaison oft keine Menschenseele trifft.
Hier in Cornwall, in einem kleinen Buchladen am Meer, fing vor vielen Jahren alles an.
Ich wollte eigentlich nur ein Buch aus oder über Cornwall als Reiseandenken mitnehmen, aber bevor ich auch nur angefangen hatte, herumzustöbern, wurde ich sogleich wie magisch von einem Buchständer direkt am Eingang angezogen. Die Bucheinbände waren wunderschön illustriert und zeigten zum Teil Narzissen, meine Lieblingsblumen, sodaß ich sofort meine Hand nach einem der Bücher ausstreckte und die kurze Inhaltsangabe auf der Rückseite las:
Das Buch war aus der Reihe der Minack Chronicles von Derek Tangye und handelte von seinem Leben mit seiner Frau und seinen Tieren in einem kleinen Cottage mit Namen “Dorminack” oder kurz “Minack” auf den Klippen an der Südküste von Cornwall.
Derek Tangye, Journalist und später für den britischen Geheimdienst tätig und Jeannie, seine Frau, die einen hohen Posten im Savoy Hotel in London bekleidete, Bücher schrieb, und Größen aus Film, Theater und Politik zu ihren Freunden zählte, hatten irgendwann das oberflächliche Leben in der Großstadt satt und beschlossen während eines Urlaubs in Cornwall von heute auf morgen, ihr Leben völlig umzustellen, als sie bei einem Spaziergang auf den Klippen ein kleines heruntergekommenes Cottage entdeckten. Sofort wußten beide, daß das ihr zukünftiges Heim sein würde. Sie würden es renovieren und auf dem umliegenden Land Narzissen züchten.
Soweit hörte sich der Inhalt des Buches vielversprechend an, und ich fing an, in dem Buch zu blättern und erfuhr, daß es den Tangyes tatsächlich gelang, das Cottage käuflich zu erwerben und auch das umliegende Land zu pachten. Das Leben im Cottage war nicht leicht. Es gab nicht einmal einen richtigen Weg dorthin, auch kein fließendes Wasser oder Strom, aber die beiden kämpften sich durch alle Schwierigkeiten und verwirklichten ihren Traum – eine Blumenfarm in Cornwall und ein Leben im Einklang mit der Natur.
Keiner der Freunde von Derek und Jeannie Tangye hatte den beiden eine Chance gegeben oder geglaubt, dass dieses Leben funktionieren würde. In ein paar Wochen, oder spätestens Monaten, wären sie wieder zurück in London, hatte man ihnen prophezeit, aber die Tangyes blieben. – Sie blieben und hatten ein Auskommen, auch wenn es manchmal sehr schwer war, von dem Land zu leben, wenn Stürme die Ernte vernichteten, oder die Blumen zu spät aufgingen und Händler in anderen Teilen des Landes schon den Markt gesättigt hatten. Beide hatten ja noch ihr schriftstellerisches Talent, mit dem sie sich über Wasser halten konnten, und die Nähe zur Natur und das Leben mit ihren Eseln und Katzen und den vielen wilden Tieren, die bis an ihre Haustüre kamen, entschädigte sie für jede Art von Mühsal.
Am liebsten hätte ich noch weitergelesen, denn das Buch hatte mich sofort in den Bann gezogen. Ich mußte es einfach kaufen, und ich kaufte nicht nur dieses Buch sondern noch einige weitere aus der Reihe, sodaß ich später zurück in Deutschland immer wieder darin versinken konnte und zurück in Cornwall war.
Die Bücher begleiteten mich fortan durch mein Leben, und irgendwann fasste ich dann den Entschluß, mich selbst auf den Weg nach Minack zu machen, um alles, über das ich gelesen hatte, in Wirklichkeit zu sehen und die Tangyes einmal persönlich kennenzulernen. Der nächste Cornwall-Urlaub stand ja kurz bevor.
In Cornwall angekommen kaufte ich mir in dem gleichen kleinen Laden am Meer noch das neueste inzwischen herausgekommene Minack Chronicle und war geschockt als ich von der Verkäuferin erfuhr, daß Jeannie Tangye inzwischen verstorben war. Für mich war es, als ob eine Freundin gegangen wäre. Unter diesen Umständen fand ich es nicht passend, Derek Tangye, der ja nun trauerte, zu besuchen, und mein Vorhaben wurde erst einmal auf unbestimmte Zeit verschoben.
Derek Tangye schrieb indessen weitere Bücher über sein Leben in Minack, die ich mir aus England schicken lies, und ich wußte, irgendwann würde ich Derek Tangye und Minack doch noch besuchen.
Nachdem ein paar Jahre vergangen waren, nahm ich mir dann für den nächsten Cornwall-Urlaub einen Besuch in Minack ganz fest vor. Eigene gesundheitliche Probleme ließen mich dann aber zunächst zweifeln, ob ich die weite Reise zu dem Zeitpunkt überhaupt antreten sollte. Dann aber war ich mir plötzlich sicher, das dieses der richtige Zeitpunkt sein mußte, denn ich hatte das eigenartige Gefühl, daß es sonst zu spät sein könnte.
So machten wir uns wieder einmal auf den Weg nach England, und es war die richtige Entscheidung, denn mein Gesundheitszustand besserte sich wieder, und schließlich fanden wir uns am oberen Ende der ‘Winding Lane’ wieder, dem Pfad der nach Minack hinunter führt. Wir parkten unseren Wagen am Straßenrand und gingen zu Fuß weiter.
Es war unwahrscheinlich spannend, nun auf dem Land zu stehen, über das ich schon soviel gelesen hatte. Für meine Familie, die die Bücher nicht gelesen hatte, war es einfach nur wunderschöne Landschaft und Natur. Ich aber verband durch die Bücher mit jeder Stelle besondere Begebenheiten, die alles noch lebendiger machten.
Die sogenannte ‘Winding Lane’, die wir nun entlang gingen, wurde an beiden Seiten von blühenden Büschen und Wildblumen gesäumt, die mit Schmetterlingen übersät waren, und überall war das Summen der Hummeln zu hören. Als die Tangyes nach Minack kamen, gab es diesen Weg noch gar nicht. Wieviel Arbeit hatten sie aufgewendet, um das Land urbar zu machen und Minack überhaupt erreichbar zu machen ohne stundenlang durch Brennnesseln und Morast stiefeln zu müssen.
Dann, in der Wegbiegung, der Eingang zum Naturreservat "Oliverland", ein Stück Land, das die Tangyes käuflich erworben hatten, damit es für immer ein Naturreservat bleiben würde, und dahinter das Meer.
Es war beeindruckend, daß wirklich alles so war, wie in den Büchern beschrieben.
Der Weg wurde nun durch die überhängenden Büsche und Bäume zu einem Tunnel aus Grün.
Wenn wirklich alles so war wie in den Büchern, müßte nun gleich ein kleiner Bach über den Weg plätschern, ebenfalls von besonderer Bedeutung in den Büchern und von den Tangyes Monty’s Leap genannt, und, tatsächlich, da tauchte er auch schon auf. Monty war die damalige wasserscheue Katze der Tangyes, die an dieser Stelle nicht wie sonst üblich am Wasser sofort kehrt machte, sondern ohne Zögen mit einem Sprung hinübersetzte – für die Tangyes ein Zeichen, daß der Weg in ihr neues Leben richtig war.
Es war wirklich wunderschön hier, nur der Wind in den Bäumen, die Sonne die durch die Blätter schien, das Plätschern des Baches, in der Ferne das Rauschen des Meeres und das Kreischen der Möwen und gelegentlich ein Muhen von der benachbarten Kuhweide.
Ein paar Schritte weiter, und wir erblickten die alten Gewächshäuser, in dem das Ehepaar soviel Zeit verbracht hatte.
Danach erreichten wir den alten Stall, von dem ein Teil als Lagerraum für Bücher und Erinnerungssstücke der Tangyes genutzt wurde und nachdem sogar ein ganzes Buch benannt war.
Auf der Weide, gleich um die Ecke schauten uns zwei Paar Augen neugierig an. Es waren Susie und Merlin, die beiden Esel, zwei freundliche Kreaturen, die, wie ich aus den Büchern wußte, aber manchmal auch den Schalk im Nacken hatten und einen riesigen Spaß daran hatten, Besucher querfeldein zu jagen. Bei uns freuten sich die beiden über die Kekse, die wir ihnen mitgebracht hatten und kamen so erst gar nicht auf unliebsame Gedanken.
Das Cottage selbst war jetzt nur noch ein paar Schritte entfernt.
Jetzt war es an der Zeit, an die Tür zu klopfen und dem alten Herrn, der mit seinen Büchern sovielen Menschen Freude bereitete, zu begrüßen. Ein bißchen zögerte ich schon, da wir ja unangemeldet kamen. Würde er überhaupt da sein, und würde er in der Stimmung sein, Gäste zu empfangen?
Ich nahm allen Mut zusammen und klopfte an die angelehnte Tür.
Von innen ertönte die Antwort: “Come in, please”, und dann stand ich dem Autor gegenüber, - ein freundlicher alter Herr, barfuß und in Jeans, der sich über den Besuch zu freuen schien.
Wir kamen gleich ins Gespräch über die Bücher, darüber wie wir den Weg gefunden hatten, wo in Cornwall wir Urlaub machten und vieles mehr.
Derek ging dann mit uns wieder hinaus, was ihm einige Mühe bereitete, denn die Jahre waren auch an ihm nicht spurlos vorübergegangen. Er wollte uns aber unbedingt die markanten Punkte rund um das Cottage zeigen, die in den Büchern eine Rolle spielten und von denen er wußte, daß seine Leser sie gerne sehen würden.
Der Weg zum “Oliverland Nature Reserve”, so benannt, da die Tangyes den ihnen zugelaufenen Kater Oliver dort zum ersten Mal gesehen hatten, war ihm dann aber doch zu mühsam. So erklärte er uns, welchen Weg wir am besten durch das Naturreservat nahmen, um auch dort keinen der markanten Punkte aus den Büchern zu versäumen.
Da in den Büchern alles so gut beschrieben war, hätte ich aber wohl auch ohne die erneute Beschreibung von Derek alles gefunden.
Da war z.B. “Blackthorn Alley”, jener tunnelartige Pfad zwischen hohen Schwarzdornbüschen, durch den die Esel Besucher ganz besonders gern jagten.
Am Ende der Blackthorn Alley fanden wir uns auf dem wilden Moorland auf den Klippen wieder mit wildem Ginster, Farnen, Dornenbüschen und hohem Gras und zwischendrin schmale Wiesenpfade. Auch hier herrschte totale Ruhe außer dem Rauschen des Windes und dem Rufen der Möwen, und hin und wieder ein Rascheln im Unterholz, denn dieses war auch die Heimat von Füchsen, Dachsen, Fasanen und jeder Menge anderer kleiner Tiere und Vögel. Unten auf dem Meer schaukelte ein Fischerboot auf den Wellen, und die “Scillonian”, die Fähre aus Penzance, war unterwegs zu den Scilly Islands draußen im Atlantik.
Hier, an diesem wunderschönen Fleckchen Erde, stand auch der “Ambrose Rock”, ein Jahrhunderte alter Felsen, der die Grenze des Tangye-Besitzes markierte und nach einer der geliebten Katzen von Derek und Jeannie benannt war, die ihn gerne als Sitzplatz benutzte. Damals wußten Derek und Jeannie, daß sie es geschafft hatten und ihr Ziel erreicht hatten, als sie bei der Urbarmachung des Landes diesen Punkt erreicht hatten und von hier aus über das weite Land zurück zum Cottage schauten. Der Felsen symbolisierte für sie alles, was sie bisher erreicht hatten und gab ihnen Zuversicht für die Zukunft. Für Jeannie war er wie ein Felsen des Glücks, und sie machte aus ihm einen Wünschelfelsen.
So ist es noch bis heute Tradition bei allen Tangye Fans, bei einem Besuch im Nature Reserve, einen Wunsch am Ambrose Rock zu hinterlassen.
Wir setzten uns eine Weile auf den von der Sonne gewärmten Stein und genossen die Ruhe und die Aussicht. Dann ging es weiter zum “Honeysuckle Meadow”, einem Areal, das über und über bedeckt war von gelb und rosa blühendem Geißblatt, das die Luft mit seinem süßen Duft erfüllte. Hier inmitten der Farben und des Duftes war auch der Ort innezuhalten und für einen Moment Jeannie zu gedenken, denn hier, an diesem paradiesischen Fleckchen Erde war ihre Asche verstreut worden….
Über eine Stunde waren wir im Oliverland unterwegs gewesen. Derek hatte inzwischen Besuch von zwei Damen aus der Nachbarschaft erhalten, die ihm beim Aufräumen halfen, da er am gleichen Nachmittag noch Besuch von Lord und Lady St. Levan erwartete, die auf St. Michael’s Mount residierten – “The King and Queen of Cornwall” scherzte er, wollte uns aber trotzdem noch nicht gehen lassen und lud uns noch einmal in seinen von Licht durchfluteten Mini-Wintergarten vor seiner Haustür ein, wo wir noch eine Weile saßen und erzählten.
Wieviele Leute aus aller Welt hatten hier in diesem kleinen Wintergarten, versteckt in den Klippen von Cornwall, schon gesessen und mit Derek, und früher auch Jeannie, geplaudert.
Da waren Berühmtheiten wie Danny Kaye und Gertrude Lawrence oder H. P. Herbert, die die beiden aus ihrer Zeit in London kannten und die ihnen auch in der Minack-Zeit die Treue hielten.
Vor allen Dingen aber waren es Menschen aus der ganzen Welt, die aufgrund der Bücher kamen und Minack kennenlernen wollten, und Derek und Jeannie hatten immer ein offenes Ohr für sie – ganz besonders wenn sie auf der derselben Wellenlänge waren, und das waren die Leser der Bücher nahezu immer.
Einer der regelmäßigen Gäste war auch Freund und Nachbar David Cornwell, alias John le Carré, und obwohl Derek und John le Carré vom Thema her völlig unterschiedliche Bücher schrieben, verstanden sich die beiden prächtig und inspirierten sich gegenseitig wenn wieder einmal einer von beiden eine Schreibblockade hatte.
Nun saßen wir hier, und irgendwie waren auch wir Teil der Bücher geworden.
So ging ein wunderschöner Nachmittag allmählich zuende. Derek schenkte mir noch eine Zeitschrift mit einem Artikel von sich und schrieb von Hand dazu: “You are always welcome to Minack”. Schließlich bat er mich noch, einige Bücher für ihn aus dem alten Stall, dem sogenannten “Confusion Room” zu holen, so genannt weil darin alles aufgehoben wurde, was im Cottage keinen Platz hatte. Derek hatte einmal geschrieben, er würde nie jemanden in den Confusion Room lassen, so war es schon etwas Besonderes. Ich glaube, er brauchte die Bücher gar nicht wirklich, sondern wollte mir damit nur eine Freude machen, denn es gab auch dort allerlei zu sehen, was aus den Büchern bekannt war wie die Auszeichnungen und Preise bei Blumenshows oder besondere alte Fotografien und Bücher usw.
Nun wurden noch ein paar Fotos geschossen und nachdem wir uns von Derek und den Eseln verabschiedet hatten, traten wir den Rückweg an. Ich war immer noch beeindruckt, daß alles so genau mit den Büchern übereinstimmte. Sogar die “Evening Gull”, eine Möwe aus den Büchern, die jeden Abend zum Cottage geflogen kam, um noch ein Abendessen zu ergattern, war zu unserem Abschied gelandet.
Wir gingen zurück entlang der ‘Winding Lane’ und schauten uns noch einmal um, bis das Cottage aus dem Sichtfeld verschwunden war.
Derek haben wir in unserem darauffolgenden Cornwall-Urlaub nicht mehr gesehen. Er verstarb drei Monate nach unserem Besuch …..
Ich werde nun immer dankbar dafür sein, daß mein Gefühl mich damals noch gerade rechtzeitig nach Minack geführt hat.
Heute bin ich Mitglied in der Friends of Minack Society und habe dadurch viele liebe neue Freunde gewonnen, die sich dem Andenken von Derek und Jeannie Tangye und den Minack Chronicles widmet und alles Wissenswerte über Minack und die Bücher auf ihrer Website veröffentlicht. ( http://www.friendsofminacksociety.net/ )
Minack ist heute in Privatbesitz und nicht mehr für die Öffentlichket zugänglich, aber wer den langen und anstrengenden Aufstieg über den Klippenwanderweg von Lamorna aus nicht scheut, kann noch heute von der Seeseite her über den Küstenwanderweg ins Oliverland gelangen, dieses besondere Fleckchen Erde, das heute vom Minack Chronicles Trust betreut wird. Nur ein kleines verstecktes Hinweisschild am Klippenpfad weist darauf hin, und so soll es auch bleiben, denn Oliverland ist in erster Linie ein Platz für die Natur und erst in zweiter Linie für die Menschen, aber diejenigen unter den Menschen, die die Einsamkeit und die Natur zu schätzen wissen, sind hier immer willkommen, und wer weiß, vielleicht ist ja wirklich etwas dran an den Erzählungen von Spaziergängern, die von dort zurückkommen und im Nebel Stimmen gehört haben wollen obwohl niemand da war. Im mystischen Cornwall scheint alles möglich.
Autor:Sybille Weber aus Essen-Steele |
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