Die Nein-Sager
10 Uhr am Mittwochmorgen. Die Kinder der Klasse 2b der Hinseler Schule stürmen die Turnhalle. In der Raummitte steht Alfons Pinders. Den großgewachsenen Mann mit dem grauen Pferdeschwanz kennen die Sieben- bis Achtjährigen schon.
Für die Kinder ist es die sechste Kursstunde zum Thema Selbstbehauptung und Ich-Stärkung und Alfons Pinders von der Rüttenscheider Kampfkunst-Akademie „i-defense“ e.V. ist ihr Trainer.
Seit über 20 Jahren arbeitet er daran, Kindern und Jugendlichen ein besseres Standing in Konfliktsituationen zu vermitteln, ihre Selbstbehauptung zu schulen.
„Nein“ zu sagen, und das - falls nötig - auch lauter, ist dabei so etwas wie eine Schlüsselqualifikation, um sich in grenzüberschreitenden Situationen zu behaupten und seine eigenen Grenzen deutlich machen zu können.
Fünf Unterrichtseinheiten haben die Zweitklässler schon hinter sich, haben theoretisches und praktisches Wissen zur besseren Selbstbehauptung gesammelt. In Rollenspielen bringt Coach Pinders den Kindern nahe, worum es geht. „Es geht nicht darum, den Kindern Angst zu machen“, so der Trainer, „sondern um das Wissen, wie man sich richtig zu verhalten hat. Nehmen Sie die Situation im Bus. Die meisten Kinder setzten sich am liebsten ganz nach hinten ans Fenster. Das ist aber die denkbar ungünstigste Position. Viel sicherer ist es, am Gang zu sitzen oder direkt neben dem Fahrer.“ Auf diese Weise können Kinder brenzlige Situationen vermeiden - etwa, dass ihnen ein fremder Halbstarker oder gar ein Erwachsener zu nahe kommt.
Für den Fall, dass es doch soweit kommt, bekommen die Grundschüler von Pinders das richtige Rüstzeug mit auf den Weg. Physische Dinge seien da ganz wichtig: „Die richtige Körperhaltung, Gleichgewicht und Balance.“ Der Trainer erklärt: „Wenn das Kind weiß, ‚ich habe ein gutes Körpergefühl‘ bewirkt das auch eine mentale Stärkung: ‚Ich bin nicht schwach‘.“ Dazu gehört ein fester Stand und die richtige Armhaltung.
Im Rollenspiel wird das gleich nachvollzogen. Die Mädchen und Jungen trainieren, mit beiden Beinen fest auf dem Boden zu stehen. Dabei ist das hintere Bein gestreckt, das vordere leicht eingeknickt. Die Grundschüler stehen sich paarweise gegenüber. Der „Selbstbehaupter“nimmt die stabile Position ein, streckt dem „Aggressor“ die Arme entgegen, Handflächen nach vorn, und ruft „Fass mich nicht an“. Der Coach ist noch nicht ganz zufrieden: „Ich habe ja gar nichts gehört“. Die Kinder wiederholen die Übung, nun um einige Dezibel lauter. „Ja, so ist es gut. „Wisst Ihr, Lautstärke ist dabei ganz wichtig“, so Pinders. Klar, wissen die Kids: Autos draußen sind ganz laut, die müssen übertönt werden. „Und was sagt Ihr in dieser Situation zu einem Erwachsenen?“, fragt der Trainer. Viele wissen die Lösung: Fassen SIE mich nicht an. „Ja richtig, das ist wieder ganz wichtig. Euren Vater siezt Ihr schließlich nicht. Dann wissen die Leute gleich: ‚der gehört nicht zu dem Kind‘.“
Seit vier Jahren gehört der Lehrgang zum Programm an der Hinseler Schule und alle Zweitklässler durchlaufen ihn. „Es folgt noch der Kurs ‚Mein Körper gehört mir‘ für die Jahrgänge 3 und 4“, erläutert Annette Kaiser, Klassenlehrerin der 2b.
Im Unterricht wird das Eingeübte stets nachgearbeitet. Und so merkt Annette Kaiser auf, als es in der nächsten Übung um einen gut platzierten Tritt gegen das Schienbein des Angreifers geht - Pinders trägt jetzt einen Schienbeinschoner . „Das müssen wir noch aufarbeiten“, so die Klassenlehrerin, „damit den Kindern ganz klar ist, dass diese Übung nur im Notfall eingesetzt werden darf.“
Manche ihrer Schützlinge hätten sich anfangs schwer getan, überhaupt die Stimme zu erheben und laut „nein!“ zu sagen. „Da gehört ja auch etwas zu!“ Aber Alfons Pinders habe da ein tolles Gespür, lobt die Pädagogin. „Er hat sich gleich meine ‚Schätzchen‘ rausgepickt, die ganz stillen Kinder, und kann selbst die aus der Reserve locken.“
Die Stimme und die Sprache zu benutzen hält die Lehrerin für eine der wichtigsten Kompetenzen bei der Selbstbehauptung: „Dass die Kinder bewusst ‚Sie‘ zu Fremden sagen, dass sie lernen, mit lauter, direkter Stimme umzugehen und die eigene Meinung zu formulieren, sensibel und wachsam im Umgang mit Fremden zu sein, nicht immer nur nett und freundlich zu Erwachsenen zu sein und schnell zu reagieren.“ Auch Hilfe von anderen Erwachsenen einzufordern sei essentiell. Kaiser: „Da kommt man als Kind gar nicht so drauf.“ Außerdem wird an der Hinseler Schule sichergestellt, dass alle Schüler ihre Adresse wissen - für den Notfall. „Wichtig ist, dass das richtige Verhalten in der Situation, wo es gebraucht wird, sitzt - zum Automatismus wird."
All das zu verinnerlichen, daran arbeiten die Mädchen und Jungen der Klasse 2b mit Trainer Pinders weiter. Die nächste Übung stellt die Situation am Auto nach. Distanz zu halten ist hier der Königsweg. „Je näher Ihr am Wagen steht, desto schlechter.“ Im Rollenspiel steht das Kind richtig in einiger Distanz in Höhe des Vorderrades. Pinders: „Wenn ich jetzt zu Dir will, muss ich erst aussteigen und um die Tür rum.“ Zeit genug, um wegzulaufen.
Autor:Melanie Stan aus Essen-Ruhr |
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