Tierschutz - eigentlich eine Verfassungsaufgabe
Stellen Sie sich vor, Ihnen werden große Teile Ihres primären Geschlechtsorgans bei vollem Bewusstsein entfernt oder Ihre Lebensberechtigung speist sich allein aus dem Umstand, dass man an Ihre Haut will, um daraus Dinge wie Mützen und Mäntel herzustellen. Hierzulande bei Tieren gang und gäbe. In der Landwirtschaft werden männliche Ferkel ohne Betäubung kastriert, die Haltung von Tieren allein zur Fellgewinnung ist in Deutschland nach wie vor erlaubt, Hühnern werden die Schnäbel zurechtgestutzt, Rindern die Hörner abgeschnitten...
Im Juni 2002 ist der Tierschutz vom Bundestag als Staatsziel im Grundgesetz verankert worden. Artikel 20a GG lautet: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.“ Zehn Jahre Tierschutzgesetz – mit Leben gefüllt wurde es offenbar nicht. „Eine Farce!“, lautet das Echo nicht weniger angesichts der fortbestehenden Praktiken wie den oben genannten. Eine „umfassende Novellierung des Tierschutzgesetzes“ fordern der Deutsche Tierschutzbund und die ihm angeschlossenen über 700 Tierschutzvereine. Zudem ist die Änderung des deutschen Tierschutzgesetzes notwendig, da die Tierversuchsrichtlinie der Europäischen Union bis Ende 2012 in nationales Recht umgesetzt werden muss. Das Bundeslandwirtschaftsministerium hat Anfang des Jahres einen Entwurf zur Novellierung des Tierschutzgesetzes vorgelegt und die Politik diskutiert bis dato heftig darüber.
Und so standen die Gesetzesnovelle und das in NRW angestrebte Verbandsklagerecht
auch im Fokus der Arbeitstagung des nordrhein-westfälischen Landestierschutzverbandes, die in Essen stattgefunden hat. „Bis zum Stichtag 10. November sollte diese Novelle eigentlich umgesetzt werden“, erklärt MdB Heinz Paula, Tierschutzbeauftragter der SPD-Bundestagsfraktion und Vorsitzender des Augsburger Tierschutzvereins zum Stand der Debatte im Deutschen Bundestag. „Es gibt sehr viele Bereiche, die wir anpacken müssen, die dringend, dringend geregelt werden müssen, wenn wir den Auftrag unseres Grundgesetzes, Artikel 20a, als Verfassungsauftrag wahrnehmen wollen und die Rechte der Tiere entsprechend schützen“, so Paula. Selbst Untersuchungen im Auftrag des Bundeslandwirtschaftsministeriums hätten ergeben, dass bei über 90 Prozent der Verbraucher bei den Fleischprodukten, die sie erwerben, der Tierschutz ganz oben zu stehen habe.
Vieles liegt im Argen
Wie geht der Mensch mit den Tieren um? Zu viele Dinge liegen aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion hierzulande noch im Argen: die Haltungsbedingungen von Tieren in der Landwirtschaft, die betäubungslose Ferkelkastration und Manipulation an Tieren wie das Stutzen der Schnäbel bei Hühnern und das Abschneiden der Hörner bei Rindern, Akkordarbeit in Schlachtbetrieben, die Bedingungen bei Tiertransporten, fehlendes obligatorisches Prüf- und Zulassungsverfahren für Haltungssysteme, Betäubungseinrichtungen beim Schlachten sowie für Tiertransporte, die Haltung von Legehennen, der Schenkelbrand bei Pferden, so genannte Qualzüchtungen, Wildtiere in Zirkussen, die Haltung von Pelztieren zur Pelzgewinnung, unreglementierte Tierbörsen, Tierversuche an Menschenaffen und Tierversuche, die durch tierversuchsfreie Alternativen ersetzt werden können. Die Sozialdemokraten fordern hier konkrete Verbesserungen bzw. Abschaffungen und Verbote.
„In der Nutztierhaltung gibt es Beispiele, da werden Tiere geschunden, drangsaliert, nicht im Ansatz artgerecht gehalten“, so Paula. „Ich bin dafür, dass man mit den Landwirten eng und intensiv in der Diskussion ist, denn man kann nur gemeinsam etwas zum Positiven wenden.“
„Das Problem ist, dass es in der Landwirtschaft eine enorme Konzentration hin zu Großkonzernen gegeben hat. Es gibt enorme Umweltbelastungen durch die hohe Tierdichte und eine gewaltige Überdüngung unserer Landstriche z.B. mit Phosphat, dann Auswirkungen auf Drittländer: Wir holzen gnadenlos unsere Lebensgrundlage ab. Minütlich gehen 28 Hektar Wald verloren - oder allein im Amazonasgebiet täglich 7.000 Hektar Urwald, welcher zwingend notwendig wäre, um unsere gesamte Weltklimabilanz wieder positiv gestalten und katastrophalen Auswirkungen Einhalt bieten zu können – um Soja anzubauen und Flächen für die Erzeugung von Fleisch zu gewinnen. Dann der Einsatz von Antibiotika: 1.600 Tonnen Verbrauch in der Tierhaltung; im Vergleich dazu 800 Tonnen in der Humanmedizin.“ Bei den Tierversuchen gäbe es, so der SPD-Mann, „enorme Defizite selbst dort, wo die Bundesregierung gezwungen ist, EU-Vorgaben einzuhalten: Es gibt in Deutschland kein generelles Verbot von Tierversuchen an Menschenaffen. Bei Tierversuchen im Allgemeinen gibt es bei uns nur ein Anzeigeverfahren statt ein Genehmigungsverfahren, wie es die EU-Richtlinien fordern. Wir befinden uns hier nicht auf gesetzesstabilem Grund.“
Auch die Stellung von Tierschützern lässt aus Sicht der Bundes-SPD arg zu wünschen übrig: Die fehlende Pflicht zur Kennzeichnung, Registrierung und Kastration von Katzen mit Freigang, die den Tierheim regelmäßig Wellen von Neu-Insassen bescheren und „dieses erbärmliche Verhandeln mit den Gemeinden um jeden Euro.“ So fordern die Sozialdemokraten u.a eine bundesweit einheitliche Rahmenregelung und Investitions- und Nothilfefonds zur Unterstützung der Tierschutzvereine und eine verpflichtende Kennzeichnung und Registrierung und eine Kastrationspflicht bei Freigängerkatzen.
„Maßlos wütend“ macht den Augsburger Sozialdemokraten die Diskussion um die Abschaffung des Schenkelbrandes bei Pferden: Nach Auskunft des Deutschen Tierschutzbundes erleiden Fohlen beim so genannten Brennen eine hochgradige Verbrennung – „für die Tiere erhebliches und völlig unnötiges Leid“, denn seit dem 1. Juli 2009 ist die neue Vorschrift in Kraft, nach der alle Fohlen EU-weit grundsätzlich mit einem Transponderchip gekennzeichnet werden. „Das ‚Chippen’ ist fälschungssicher und macht jedes Pferd individuell identifizierbar. Das Brandzeichen stellt dagegen nur ein Markenzeichen für das jeweilige Zuchtgebiet dar“, so der Deutsche Tierschutzbund. Viele bereits gechippte Fohlen müssten trotzdem zusätzlich die Prozedur des Brennens erleiden. Im Entwurf von Bundeslandwirtschaftministerin Aigner (CSU) ist das Verbot des Schenkelbrandes verankert. Ein aus Paulas Sicht zweifelhafter Experte der CDU/CSU-Bundestagsfraktion habe ganze zwölf Pferde untersucht und sei nun Gewährsmann für die Christdemokraten, „dass das Verbot des Schenkelbrands rausgekegelt wird“ aus dem Gesetzesentwurf. Einige Tage später kommen die Fachpolitiker von Union und FDP noch bei wesentlichen Änderungen der Novelle des Tierschutzgesetzes überein und plädieren dafür, dass der Schenkelbrand weiterhin erlaubt bleibt.
Wann das neue Tierschutzgesetz in Kraft treten wird und welche Neuerungen es enthält, steht zurzeit infrage. Christel Happach-Kasan, agrarpolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion, sagte der Saarbrücker Zeitung, das neue Tierschutzgesetz könne frühestens im März 2013 in Kraft treten. Außerdem muss sich noch der Bundesrat mit dem Gesetzentwurf befassen, der das letzte Mal in diesem Jahr am 14. Dezember tagt. „Man will das Ganze hinauszögern“, vermutet Heinz Paula. „Über 50 Vorschläge hat der Bundesrat eingebracht. Keiner davon ist in den Gesetzentwurf hereingenommen worden“, klagt er. Beim „Tierwohl-Label“, das verbesserte Lebensbedingungen für Nutztiere vorschreibt, habe es im Bundesrat fraktionsübergreifend Übereinstimmung gegeben. „Von der Regierung abgeschmettert“, so Paula. So wundert es auch nicht, dass dem Bundesrat die bisher vorgeschlagenen Änderungen nicht weit genug gehen. Heinz Paula hegt dennoch die Hoffnung, dass es eine echte Novelle geben wird: „Die Grünen haben einen Gesetzentwurf eingebracht, die SPD hat klare Punkte erarbeitet – da kommt ordentlich was raus!“
Verbandsklagerecht
Stärkung erführen die Rechte der Tiere auch mit einer Einführung des Verbandsklagerechts für Tierschutzvereine, bei der NRW an Bremen, wo es bereits seit 2007 existiert, anschließen will. Schon im Juli 2011 hatte es die damalige rot-grüne Minderheitsregierung in den NRW-Landtag eingebracht. Es stand schon kurz vor seiner Verabschiedung und wurde in der neuen Legislaturperiode, am 20. September 2012, wieder in die parlamentarischen Beratungen aufgenommen. „Der Tierschutz steht im Grundgesetz gleichberechtigt neben dem Naturschutz. Dennoch gibt es noch immer keine Möglichkeit, die Rechte für die Tiere einzuklagen“, moniert der Grüne Landtagsabgeordnete Norwich Rüße, der an diesem Tag über das Verbandsklagerecht referiert.
Das Verbandsklagerecht versetzt Vereine und Verbände in die Lage, nicht die Verletzung eigener Rechte per Klage geltend zu machen, sondern die der Allgemeinheit. Analog zum Verbandsklagerecht im Naturschutzrecht, das seit 2002 sogar auf Bundesebene existiert, soll anerkannten Tierschutzvereinen – auf Ebene des Landes NRW - ein Verbandsklagerecht eingeräumt werden, „damit“, so informiert der nordhein-westfälische Landtag – „sie die Interessen der Tiere als deren Treuhänder nicht nur aussprechen, sondern erforderlichenfalls auch vor Gericht geltend machen und einklagen können“. Rüße: „Das Verbandsklagerecht wird die Kräfteverhältnisse zwischen Tiernutzern und Tierschützern verändern, es wird ein Gleichgewicht schaffen.“ Tiere auch über das Verbandsklagerecht für anerkannte Tierschutzvereine zu schützen, entspricht den Staatszielbestimmungen zum Tierschutz in Artikel 20 a des Grundgesetzes, formuliert des Gesetzentwurf der rot-grünen NRW-Landesregierung. „Das Schlachten ohne Betäubung, das Schnäbelkürzen, die Zurschaustellung von Wildieren in Zirkussen, Tierversuche – alles Dinge, die unter das Verbandsklagerecht fallen“, erklärt Norwich Rüße. Auch bei Bauvorhaben – Stallbauten, Legehennenbetriebe etc. - hätten die Tierschützer künftig ein Wörtchen mitzureden, bekämen Einsicht in die Planung und könnte gegebenenfalls gegen das Vorhaben Klage einreichen. Der von Seiten der Opposition oft gehörte Vorwurf einer befürchteten Klagewelle ist Rüßes Ansicht nach haltlos: „Die gleichen Befürchtungen gab es auch bei Einführung des Verbandklagerechts bei Naturschutzvereinen.“
„Es gibt ja auch bestimmte Vorgaben, die einzuhalten sind“, erläutert der Grüne Landtagsabgeordnete. „Wer klagen will, muss in ganz NRW tätig sein, eine bestimmte Mitgliederzahl und Professionalität vorweisen können – da kommen nicht ganz so viele Tierschutzvereine infrage. Außerdem gibt es den finanziellen Aspekt: Der Klagende hat die Kosten.“ Es sei an den Tierschutzvereinen, das Verbandsklagerecht künftig mit Leben zu füllen, appelliert Rüße. Der Gesetzentwurf zum Verbandsklagerecht für Tierschützer wurde nach erster Lesung Mitte September 2012 einstimmig an den federführenden Ausschuss für Klimaschutz, Umwelt, Naturschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, an den Ausschuss für Bauen, Wohnen, Stadtentwicklung und Verkehr, an den Ausschuss für Innovation, Wissenschaft und Forschung sowie an den Rechtsausschuss überwiesen. Derzeit befindet sich das Gesetz noch in Beratung. Norwich Rüße erhofft sich von der Einführung des Verbandsklagerechts für Tierschützer in Nordrhein-Westfalen eine „Signalwirkung auf den Bund. Es wäre nicht das erste Mal, dass eine Sache von NRW ausgehend bundesweit umgesetzt werden konnte!“
Autor:Melanie Stan aus Essen-Ruhr |
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