Für Leseratten: Aus dem Märchenreich der Politik bis 1996
Kalter Kaffee aus den 90-er Jahren
(Der Beitrag wird noch weiter durcheditiert und evtl. bebildert!)
(Posted on Wordpress at 03/11/2012 by consulting
Angaben zu Fußnoten und Seitenzahlen sind hier bedeutungslos.)
Gleich vorweg:
In diesem Auszug aus meinem (nicht veröffentlichten) Buch mit dem Untertitel „Nachhilfestunde für Denkfaule“ funktionieren die Fußnoten nicht, und die Seitenzahlen fehlen. Hinweise auf andere Seiten sind also nur Hinweise auf ein Manuskript in meinem Rechner. Ein wenig mag das Verständnis aus Zusammenhängen darunter leiden. Auch wurden die verschiedenen Schriftarten nicht von WORD nach WordPress übernommen. Was statt durch An- und Abführungen durch eine andere Schriftart kenntlich gemacht wurde, ist jetzt mit dem anderen Text verrührt. Sei es so. In den Endnoten wird zudem völlig falsch zu einem lokalen Dokument verlinkt. Es fehlen auch einige Bilder und Grafiken. Sei es so, ich werde mir keine Extra-Arbeit zumuten.
Ende der 80er Jahre sollte ich für einen Verlag eine über etliche Jahre verlaufende „Betrachtung der gesellschaftlichen und politischen Lage“ erstellen. Dafür bekam ich einen beachtlichen Vorschuss. Dann erhielt ich, als die Arbeit schon weit fortgeschritten war, einen weiteren üppigen Vorschuss. Dann war das Buch fertig und lag Ende 1996 dem Cheflektorat vor.
Es standen nunmehr noch diverse Korrekturen an, die jedoch nicht mehr nötig wurden. Der Verlag (unter neuer Leitung und bei veränderten politischen Verhältnissen) blies die Veröffentlichung ab und wollte seine Rechte an dem Manuskript nur noch für 20 Jahre gesichert sehen. Es blieb bei dem Vorschuss, der einer Auflage von etwa 25.000 Exemplaren entsprochen hätte.Die Sache hier hat einen Haken:
Niemand soll auf die Idee kommen, dieser Auszug (obgleich öffentlich) sei eine “Veröffentlichung” des Manuskriptes im juristischen Sinne. Indem ich Einsicht in einen Teils des Manuskripts verschaffe, erteile ich nur eine Art “Geschichtsstunde”, denn das Beschriebene und Erörterte liegt so um den Strich rund zwei Jahrzehnte zurück.Warum so einen alten Kram lesen?
Ja, warum?
Vielleicht um festzustellen, dass Politik schon damals und immer noch und immer wieder nur eine scheindemokratische Schauveranstaltung ist, bei der sich vor allem rhetorisch hochbegabte Dilettanten in führende Positionen schwätzen und dann eher parasitär die Taschen vollmachen. Wäre es nicht an dem, würde es nicht so viele Tausende von Lobbyisten geben (allein in Brüssel!). Und mehr noch: Welche Belohnungen für ein bestimmtes Verhalten werden oder wurden etwa versprochen, wenn beispielsweise ein gewesener Sozialdemokrat und früherer Bundeskanzler direkt nach dem Ausscheiden aus dem Amt einen hoch honorierten Posten bei einem Mega-Konzern antreten konnte, dem er zuvor als Politiker das Bett gemacht hat?Man merke sich:
Früher hauten Kaiser, Könige, Fürsten, Grafen, Ritter und sonstige Eliten dem Volk aufs Haupt; heute tun es die “Volksvertreter”. “Denen da oben” liegen “die da unten” nur so weit am Herzen, wie es notwendig ist, einen sonst unvermeidbaren Aufstand gegen Mächtige in Wirtschaft und Politik zu vermeiden und die “Massen” berechenbar zu halten.Jetzt also das Kapitel “aus der ollen Kamelle”:
Abrissbirne über Standort Deutschland?
Trauer anlegen oder in die Hände spucken und etwa unternehmen? – Wo ist das eine oder andere erkennbar… – Trauer schickt sich gewiß für all diejenigen, die an christlich-soziale Demokratie geglaubt, sich auf die Parteien verlassen und nur immer den Schnabel nach versprochenen Wohltaten hochgereckt haben. Sie erhalten jetzt die Quittung für ihre Leichtgläubigkeit, Wohlstand schiene wie die Sonne und die Parteien machten das Wetter. In die Hände spucken mag derjenige, der noch nicht in Trägheit ertrunken und dessen Intelligenz nicht schon vor dem Malen von Kreuzchen erschöpft ist.
Vielen Menschen steht das blanke Entsetzen im Gesicht, wenn man ihnen die Maske des Maulheldentums behutsam abnimmt.
In der Süddeutschen Zeitung vom 16.1.1996 drückte sich Hermann Unterstöger sehr vornehm aus mit dem Titel „Furcht vor Kriminalität und Arbeitslosigkeit“. Nach dem Untertitel „Zukunftsangst nicht mehr ‘grün’ gefärbt: Das Hemd ist den Deutschen wieder näher als die Jacke – jedenfalls geben sie’s offen zu“ spekulierte er: „Was läge näher, als einen Beitrag über die Zukunftsängste der Deutschen philosophisch zu intonieren. Freilich wäre man damit schnell am Ende seiner Erörterungen, weil nämlich die meisten Ängste, so betrachtet, keine Ängste sind, sondern Fürchte – pardon: keine Angst, sondern Furcht. Die Angst als geistiges Phänomen ist (mit Heidegger zu reden) die das Dasein des Menschen, sein Selbst, erschließende Grundbefindlichkeit des Sich-Ängstigens vor seiner, des Menschen, Hineingehaltenheit in das Nichts. Ja, so etwa. Die Furcht hingegen ist objekt- oder situationsbezogen, mithin ein wesentlich handfesterer Zustand als die Angst. Nichtsdestoweniger haben sich die Zukunftsängste als Terminus etabliert, und so mögen sie denn auch hier durchgehen: als Summe alles dessen, wovor zu fürchten wir Deutschen uns in diesen Zeiten entschieden haben.“
Da mag er recht haben, der Hermann Unterstöger. Doch in der Praxis kommt man ohne Heidegger-Philosophie aus. Da genügt es, Angst ganz klassisch als Appetenz-/Aversionskonflikt zu sehen. Fürchten kann man alles und jedes, das nicht einmal akut bedroht. Man ist noch nie geflogen, will auch nie fliegen, und trotzdem fürchtet man einen Flugzeugabsturz, will auf keinen Fall etwas damit zu schaffen haben.
Sigmund Freud erwähnte einmal einen Brief von Romain Rolland, in dem die Rede von einem „ozeanischen Gefühl“ war. Dieses kann man nachvollziehen, wenn man sich in einem Boot denkt, das auf einem glatten bleiernen Meer unter einem eintönigen bleiernen Himmel schwimmt. Man kann keinerlei Himmelsrichtung festlegen und deshalb nicht wissen, in welche Richtung zu rudern sich lohnen könnte. Freud schrieb über Religion und machte auf diese Weise deutlich, wo Religionen beim Menschen ihren Hebel ansetzen, um eine Massenneurose installieren zu können: Bei diesem Gefühl des Verlorenseins.
Der Appetenz-/Aversionskonflikt aber ist etwas anderes: er ist unausweichlich. Freud unterfüttert ihn beim Menschen mit dessen Grundhaltung, Leid vermeiden und Glück erlangen zu wollen. So lange Leid nicht erkennbar und Glück nicht fühlbar ist, mag die „Hineingehaltenheit in das Nichts“ als „ozeanisches Gefühl“ greifen und das Leben als nicht besonders lebenswert erscheinen lassen. Da herrschen Furcht und Angst in Vermählung: die Furcht vor dem Verlorensein und die Angst als Konflikt zwischen Aversion gegen das Anhalten der Situation sowie Appetenz als Streben nach einer Änderung der Situation zum Angenehmeren hin.
Furcht kann immer da sein, ohne zu ängstigen. Angst dagegen tritt unausweichlich ein, wenn etwas Bedrohliches für unsere Wahrnehmung „greifbar“ wird und unserem „gesunden“ Streben zuwiderläuft. Wenn man einen Haufen Geld hat, möchte man vielleicht spekulieren. Die Appetenz läßt das Wasser im Munde zusammen laufen beim Gedanken an einen Batzen Gewinn in kurzer Zeit; die Aversion gegen gleichfalls denkbare erhebliche Verluste stellt sich gegen unsere Appetenz und erzeugt Angst als Konfliksituation.
Jetzt haben wir’s: Liegt der Aversionsgradient über dem der Appetenz, ist die Angst deutlich spürbar, verläuft er aber weit unter ihm, können wir die Angst verdrängen oder nicht einmal mehr spüren. Sollten wir auf unsere Aktienspekulation verzichten, fällt es uns auch leicht, wie der Fuchs von den Trauben zu sprechen, die angeblich sowieso zu sauer gewesen wären, auch wenn er sie hätte erreichen können.
Angst wird zum Streß, wenn sie aufgezwungen wird. Oft ist es das „Schicksal“, das uns Ängste aufzwingt. Ob man aber die Unzulänglichkeit von Menschen, etwa auch die Fehlleistungen von Politikern, als „Schicksal“ abtun kann, ist stark bezweifelbar. Bei den heute oft üblichen „Beziehungskisten“ oder „Seilschaften“, die Politiker eingehen, bei den nicht immer erkennbaren Interessen, denen sie nachgehen, während sie „Volksvertreter“ sein sollen, kann es auch sein, daß wir es mit „Verrat“ und dadurch mit dem „Bösen“ zu tun haben, nicht aber mit einem Schicksal. Schicksal wäre es gewesen, wenn auch alle Leute, deren Handeln oder Unterlassen für unser Wohl und Wehe entscheidend oder mitentscheidend sein kann, alles getan hätten, eine Gefahr abzuwenden, statt sie vielleicht sogar selbst herbei zu führen. Doch wenn kaum bekannte, kaum nachweisliche, aber dennoch maßgebliche Kungeleien oder Nachgiebigkeiten von „Entscheidungsträgern“ uns Nöte und Ängste einbrocken, ist das kein „Schicksal“ mehr.
Deshalb kann man das, was Hermann Unterstöger in der SZ geschrieben hat, fast amüsiert weiterlesen: „Es gab eine Zeit, und sie liegt noch gar nicht weit zurück, da hatte die öffentlich geäußerte deutsche Zukunftsangst, die natürlich immer auch Gegenwartsangst war, einen deutlich ‘grünen’ Hintergrund. Sie war überaus weit gespannt, indem sie die Furcht vor der Grundwasserverseuchung durch die benachbarte Deponie ebenso einschloß wie die vor der Verklappung von Säuren auf den sieben Weltmeeren oder die vor den Unabwägbarkeiten im Zusammenhang mit dem Ozonloch. Insofern konnte man von einer wahrhaft globalen Daseinsangst sprechen – von der Sorge um die bedrohte Kröte war es nie weit bis zum Weltuntergang. Daß diese Angst, bei allem verständlichen Egoismus, deutlich altruistische Züge trug, sei ihr hoch angerechnet.“ Das ist alles noch leicht zu ertragen, eher weit weg und nicht als Loch im Portemonnaie erkennbar.
Hermann Unterstöger nahm dann Bezug: „Die Umfrage[1] wollte wissen: ‘Wovor haben Sie am meisten Angst, wenn sie an Deutschland in zehn Jahren denken?’ Wie sich zeigt, hat die Angst, ein offenbar situationsbedingtes Wesen, sich nun auf andere Gegenstände geworfen (wobei natürlich, da der Blick in die Zukunft verschleiert ist, heute schwer zu sagen ist, ob diese Gegenstände es dereinst durch ausgesuchte Bösartigkeit rechtfertigen werden, daß man sich ihretwegen jetzt so ängstigt). Die Angst vor den globalen Gefahren einer fortschreitenden Umweltzerstörung ist deutlich rückläufig, sie hat binnen fünf Jahren von 62 auf 52 Prozent abgenommen und rangiert nun – gesamtdeutsch – an dritter Stelle. In Westdeutschland ist sie mit 53 Prozent allerdings immer noch deutlicher ausgebildet als im Osten (51 Prozent). Sie nimmt hier den zweiten Rang ein, wohingegen sie in den neuen Bundesländern erst an fünfter Stelle steht, ausgenommen bei jungen Ostdeutschen, bei denen sie eine ähnlich hohe Relevanz hat wie bei gleichaltrigen Westdeutschen.“
Langsam kommt uns der Verdacht, daß Angst auch so etwas wie ein Pingpongball sein mag. Denn: „Da ist, salopp gesagt, viel Angst frei geworden, und sie hat, wie das wohl ihre Art ist, schnell wieder Anschluß gefunden. Ihr Hauptthema ist die Kriminalität, was landläufig gleichbedeutend ist mit steigender Kriminalität; das fast gleichberechtigte Zweitthema ist die Arbeitslosigkeit, steigend auch sie. Vor der Kriminalität fürchten sich 59 Prozent, vor der Arbeitslosigkeit 52 Prozent. In beiden Bereichen ist, in den alten wie in den neuen Bundesländern, die Unsicherheit dramatisch angewachsen, bei der Kriminalität um 9, bei der Arbeitslosigkeit gar um 19 Prozentpunkte. Im Osten ist die Angst vor der Kriminalität ausgeprägter als im Westen (71 zu 56 Prozent); es verwundert, daß im Westen nicht nur Ältere diese Angst überdurchschnittlich häufig äußern, sondern auch und noch stärker die 14- bis 19jährigen.“
Da es hier offenkundig auch um Ost-/West-Angstverläufe geht, können wir annehmen, daß Angst (oder „Furcht“) auch Furcht von Lebenserfahrung sein kann, mal Apfel, mal Birne, aber nicht Kirsche, wenn einmal Apfel, und auch nicht Tomate, wenn einmal Birne – aber vielleicht blaue Johannisbeere, falls einmal rote gewesen?
Oder, nach Hermann Unterstöger: „Wird die Angst eines Tages kein Objekt mehr haben, quasi verwaist dastehen? Nicht einmal davor braucht man Angst zu haben, denn die Themen, an denen die deutsche Zukunftsangst sich festmacht, sind vorderhand unerschöpflich. Aus der Reihenfolge, wie die Untersuchung sie an den Tag brachte, lassen sich Präferenzen ablesen. Auf Kriminalität, Arbeitslosigkeit und Umweltzerstörung folgen: Rechtsextremismus (44 Prozent), Krieg (42), Gewalt (40), Drogen (39), Terrorismus (39), zu viele Ausländer (30), Kernkraft-Katastrophen (27), Aids (25), Gentechnik und Armut (je 22), Wohnungsnot (21), Überbevölkerung und Nationalismus (je 19), Inflation (18), Naturkatastrophen (17), Autoritärer Staat und Kommunismus (je 10), Weltuntergang (7) sowie Kapitalismus (4).“
Unterstöger schloß seine Betrachtung noch um einen Zahn salopper als zuvor: „Wohin der Angst-Hase läuft respektive wie der Trend ist, ergibt sich indessen nicht so sehr aus dieser Rangliste als vielmehr aus der Relation der heutigen Zahlen zu den früheren. Demnach wären die großen Gewinner auf dem Markt der Ängste die Arbeitslosigkeit, die Kriminalität, die Gewalt, die Armut und die Inflation, Themen also, die unmittelbar an die Existenz gehen. Das Fazit könnte, unfreundlich gesprochen, dahin gehen, daß der Egoismus seine alten Rechte einfordert. Etwas freundlicher formuliert: Das Hemd ist den Deutschen wieder näher als die Jacke – jedenfalls geben sie’s jetzt offen zu.“
Für Internet-Surfer nachweisbar bei SZ-ONLINE des Süddeutschen Verlages, einer hervorragend gestalteten Fundgrube.
Alles ganz „easy“, wie es scheint, und „cool“ in den Griff zu kriegen. Was vielen Menschen den Schweiß ins Gesicht treibt und permanent den Schlaf raubt, bedarf vor allem der Meßbarkeit. Nicht daß die Menschen Angst haben, ist so wichtig, sondern in welchem Verhältnis verschiedener Ängste zueinander. Nicht die Ursache der Angst wird seziert, sondern der Grad ihrer Wirkung, als könne man für den Dauerbetrieb noch etwas verändern, aus dem Verhältnis der Ängste zueinander eine bessere Mischung ableiten, die am Ende aus Ängsten sogar ein Wohlgefühl erzeugt.
Wie war das noch, um was ging es? – Kriminalität, Arbeitslosigkeit, Umweltzerstörung, Krieg, Rechtsextremismus, Gewalt, Drogen, Terrorismus, zu viele Ausländer, Kernkraft-Katastrophen, Aids, Gentechnik, Armut, Wohnungsnot, Überbevölkerung, Nationalismus, Inflation, Naturkatastrophen, Autoritärer Staat, Kommunismus, Weltuntergang und Kapitalismus.
Angst vor Miet- oder Hypothekenzinserhöhungen, Angst vor Partnerverlust, Angst vor Mobbing oder Angst vor plötzlicher und schwerer Krankheit (und die Raten nicht mehr bezahlen zu können) – für viele Menschen alles tägliche Ängste vor Ereignissen, die ein Leben völlig aus der Bahn werfen können. Diese Ängste scheinen nicht bekannt oder unerheblich zu sein. Doch gerade das sind Ängste, die oft verdrängt werden, die Streß bedeuten und oft krank machen, zu denen also erheblicher Anlaß bestehen kann.
Was bedeuten dagegen schon eine „Angst vor Terrorismus“, „Angst vor zu vielen Ausländern“, „Angst vor Kernkraft-Katastrophen”, „Angst vor Aids“, „Angst vor Gentechnik“, „Angst vor Überbevölkerung“, „Angst vor Nationalismus“, „Angst vor Naturkatastrophen“, „Angst vor Autoritärem Staat“, „Angst vor Kommunismus“, „Angst vor Weltuntergang“ oder „Angst vor Kapitalismus“? – Wird nach solchen Ängsten nicht systematisch und mit breitem Echo in den Medien vor allem deshalb gefragt, damit die Menschen gerade diese Ängste für wesentlich halten und ihrer eigenen latenten Ängste schämen?
Die sogenannte „Masse“, die „Mehrheit der Bürger“, die „mittleren und unteren Schichten“ nur als Manövriermasse zu betrachten, entsprechend zu beachten und auch zu mißachten, scheint wohl – wenn man die Ereignisse auf ihren eigentlichen casus cnactus zurückführt – Usus bei denen zu sein, die – wie man es so schön umschreibt – „das Sagen“ haben.
Während ich auf die Antworten der Bundestagsabgeordneten wartete, vertrieb ich mir die Zeit mit verschiedenen Betrachtungen. Die Stichworte für sie holte ich mir aus den drahtlosen und gedruckten Medien. Und mit diesen Stichworten ging ich „ins Netz“, um nach weiterführenden Informationen zu suchen. Je mehr ich auf kritische Beiträge stieß, denen ich sonst nirgends begegnet war, desto mehr fragte ich mich, ob unsere „öffentliche Meinung“ überhaupt richtig funktioniert. Waren wir nicht längst auch Opfer einer „Meinungsmacherelite“ geworden? Sind es nicht immer und immer und immer wieder dieselben Gesichter, aus denen über unzählige Kanäle Meinung verströmt wird, die wiederum Meinung beeinflußt? Sind nicht manche „Neue“ oft nur die „Alten“, die über ihre Seilschaften ein Comeback geschafft haben?
Als ein „Zeichen“ glaubte ich auch auszumachen, daß nüchterne Berichterstattung immer häufiger durch Versuche satirischer Betrachtung ersetzt wurde. War dieses auch ein Anhaltspunkt dafür, daß man die Gegenstände der Berichterstattung als nicht mehr ernstzunehmen ansah? Gesellte sich zu der Hilflosigkeit, über die zu berichten gewesen wäre, die Hilflosigkeit in der Berichterstattung selbst? Oder versteckte sich hinter dieser Form des „Berichtens“ eine neue Form des Verschlüsselns?
Um wieder aufzuschließen: Wir werden nachher noch sehen, daß wir uns bei niemandem entschuldigen müssen, wenn wir ihn oder sie für „Abschaum“ halten, daß wir aber auch niemandem einen vorschnellen Vorwurf machen sollten, wenn er sich wie „Abschaum“ verhält.
? ? ? – Wie das?
Wir werden es sehen. Nur so viel an dieser Stelle: Wenn eine Gans den Fuchs einen Mörder schimpft, hat sie wohl recht. Doch wenn der Fuchs sich eine Gans mopst – was ist daran unnormal?
Sehen wir uns also erst die „Ängste“ an, mit denen in der Öffentlichkeit operiert wird. Nehmen wir sie uns einzeln vor:
„Angst vor Terrorismus“ – was ist das? Ist es die Angst, ins Auto zu steigen, das anschließend beim Start explodiert? Bei einer Pizza zu sitzen, während das Lokal hochgeht? Beim Verlassen des Hauses erschossen zu werden? Auf einen Nenner gebracht: Ist es Angst vor Umständen, die unsere Polizeibehörden nicht mehr im Griff haben? Und sind die etwa Folgen politischer Entscheidungen von Volksvertretern und Regierungen, die sie gebildet haben?
„Angst vor zu vielen Ausländern“ – was soll denn die? Am 31.12.1994 lebten in der Bundesrepublik 81.538.600 Menschen. Darunter waren 7.117.700 Ausländer – also 8,73 Prozent. Von denen waren 1.965.600 Türken. Die machten von den Ausländern 27,61 Prozent aus; gegenüber 8,037 Prozent Italienern. Auf elf Deutsche kommt ein Ausländer. Von vier Ausländern ist einer Türke. (Zu den Hintergründen siehe auch Seite 367 unter Dokumentation )
Fassen wir „Angst vor zu vielen Ausländern“ und „Angst vor Terrorismus“ zusammen, wird vielleicht schon eher ein Stiefel draus.
Wer wollte, konnte in der WELT vom 18.3.96 einen Artikel Von Stefan Schmitz lesen: “Deutschland ist Hauptfeind Nummer 2″ mit dem Untertitel “Verbotene Kurdische Arbeiterpartei macht zum Neujahrsfest mobil”. Darin berichtete er aus Bonn: „Fanatisierte Kurden prügeln auf Polizisten ein, Tausende Demonstranten blockieren für Stunden mehrere Autobahnen – das ist das Szenario, das die Sicherheitskräfte seit Wochen befürchtet hatten und das jetzt Wirklichkeit wurde. Nach Monaten relativer Ruhe macht die verbotene Kurdische Arbeiterpartei (PKK) wieder mobil: Für sie ist Deutschland nach der Türkei der “Hauptfeind Nummer zwei”. Am Donnerstag feiern die Kurden Newroz, ihr traditionelles Neujahrsfest. Schon jetzt stellt sich die Polizei auf neue Ausschreitungen ein.
Die Gewalt geht nur von einem kleinen Teil der in Deutschland lebenden 500.000 Kurden aus. Der Verfassungsschutz schätzt, daß die PKK etwa 7.500 Anhänger in Deutschland hat und rund jeder zehnte hier lebende Kurde zur Teilnahme an PKK-gesteuerten Demonstrationen bereit ist.“
Kann es nicht sein, daß die sogenannte „Angst vor zu vielen Ausländern“ in Wahrheit nur eine Abart der „Angst vor Überfremdung“ ist? Ein Viertel der hier lebenden Türken sind Kurden. Wenn auf elf hier lebende Deutsche nur ein Ausländer kommt – weshalb dann diese Doppelangst?
Wer hat beispielsweise Angst vor Spaniern oder Portugiesen, obgleich doch die Spanier ihr eigenes Kreuz mit der bombenden ETA haben? Wer hat Angst vor Engländern, denen die IRA schwer zu schaffen macht? Oder vor Franzosen, deren afrikanische Kolonialzeit ihnen heute Probleme nachwirft? Oder vor Schweizern, Dänen, Belgiern und Schweden? – Wohl kaum jemand.
Anders sieht es aus, wenn man an Polen, Russen, Rumänen, Italiener, Türken, Kurden und „Araber“ denkt.
Wer eine von bestimmten Automarken fährt, kennt sicher auch den Spruch: „Heute gestohlen, morgen in Polen.“ Von den Russen ist vornehmlich bekannt, daß sie sich im Rotlichtgewerbe gewalttätig aufführen. Rumänische Banden (angeblich gesteuert von früheren Profis der Securitate) plündern in Deutschland. An den freundlichen und lebenslustigen Italienern stören nur deren Mafia und deren Cosa Nostra, unter denen sie selbst leiden. Deren politisches Tollhaus in ihrer Heimat amüsiert uns allenfalls, obgleich wir auch vernehmen konnten, daß Italiener die EG-Kassen geplündert haben sollen, was wieder uns alle betrifft. Schlimmer vielleicht: Mafiose Einflüsse und Methoden scheinen sich in der BRD immer mehr auszubreiten und Schwerpunkte organisierter Kriminalität zu bilden.
Die Türken machen in Deutschland viele Drecksarbeiten, für die wir uns zu fein geworden waren und auch heute noch zu fein sind. Wenn wir uns den vielen Aufforderungen, Türken zu „integrieren“ nicht angeschlossen haben, brauchen wir uns kaum zu grämen: Wo wollten die Türken denn integriert werden? Wo hocken sie in unseren Kneipen statt in ihren eigenen Teestuben? Sollen wir in ihre Moscheen pilgern oder sie in unseren Kirchen erwarten (in die wir nicht einmal selbst gehen!)? Schotten wir uns gegen die Türken ab, oder gehen vielmehr die Türken lieber ihre eigenen Wege? Müssen die in Deutschland lebenden Türken nicht erst ihre eigenen Generationenkonflikte lösen, ehe sie (nach unseren Vorstellungen!) integrations„fähig“ werden?
Dann die Kurden. Sie sind ein Volk, dessen Lebensraum sich über drei Staatsgebiete verteilt, von denen nur eines in der Türkei liegt. Wir verbinden die Kurden schnell mit der PKK, zu der Stefan Schmitz in der WELT berichtete: „Deutschland ist für die PKK aus zwei Gründen besonders wichtig: PKK-Aktivisten treiben bei ihren Landsleuten Geld für die militärische Auseinandersetzung in der Türkei ein und rekrutieren neue Mitglieder. Das Spendenziel lag 1994 bei 30 Millionen Mark. Zugleich versucht die PKK, die deutsche Öffentlichkeit und die hier lebenden Kurden für ihre Ziele zu gewinnen.“ Für den gemeinen Deutschen ist der gemeine Kurde ein gemeiner Türke. Dessen Probleme mit der PKK werden auch in Deutschland zu einem Problem. Kurden blockieren Autobahnen und tanzen der deutschen Polizei auf der Nase herum. Man sieht es doch im Fernsehen! Hätten wir keine Türken hier, hätten wir auch keine Kurden. – Jaja, die Stammtischweisheiten…
In der WELT vom 18.3.1996 hieß es unter der Schlagzeile „Kinkel nennt Gewalt der Kurden Kriegserklärung“ in einem Bericht aus Dortmund: „Die Bundesregierung sieht in den Krawallen extremistischer Kurden vom Wochenende eine ernstzunehmende Herausforderung für die innere Sicherheit. Das Verhalten der kurdischen Gewalttäter und ihrer Rädelsführer komme “einer Kriegserklärung an unseren Rechtsstaat gleich”, sagte Bundesaußenminister Klaus Kinkel (FDP) gestern in Bonn.
Der militante Extremismus von Kurden müsse “mit der ganzen Härte” des Strafrechts rechnen. Die Rädelsführer müßten umgehend in die Türkei abgeschoben werden. Innenminister Manfred Kanther (CDU) machte die verbotene Kurdische Arbeiterpartei (PKK) für die militanten Aktionen verantwortlich. Er nannte die PKK eine “Verbrecherorganisation”.“[2]
Der Stammtischdeutsche macht darauf seinen simplen Reim: „Die Türken führen ihren Bürgerkrieg in Deutschland und machen uns damit das Leben schwer. Außerdem übervölkern ihre Blagen unsere Schulklassen. Wenn die Türken dahin gehen, wohin sie gehören, haben wir unsere Ruhe, und unsere Kinder können wieder ordentlichen Unterricht erhalten.“ Er weiß nichts von dem, was etwa in der Studie der Daimler-Benz-Stiftung erarbeitet wurde, und wenn er es wußte, hat er es längst verräumt.
Ehe wir weitermachen in unserer Betrachtung wollen wir zu Seite 187 zurückblättern, wo wir Ängste „auf einen Nenner gebracht“ hatten. Gilt das dort Gesagte auch hier? Eine entsprechende Annahme scheint begründet, wenn man den Bericht der WELT weiterliest: „Die Politiker reagierten damit auf die schweren Krawalle am Samstag in Nordrhein-Westfalen. Tausende militanter Kurden hatten mit Autobahnblockaden versucht, ihre Teilnahme an einer verbotenen Großkundgebung in Dortmund zu erzwingen. Trotz eines massiven Aufgebots auf Fernstraßen, Bahnhöfen und an Grenzübergängen konnte die Polizei nicht verhindern, daß etwa 4.000 Kurden nach Dortmund kamen. Bei Demonstrationen wurden dort mehr als 400 Menschen verletzt, darunter 22 Grenzschutz- und Polizeibeamte.“
Da muß nicht nur dem Stammtischdeutschen angst und bange werden. „Tausende militanter Kurden hatten … versucht, … zu erzwingen.“ Das heißt nach rechtskräftigen Interpretationen zum deutschen Strafgesetzbuch, daß sie sich mit „vereinter“ Gewalt gegen die „Rechtsordnung“ und damit gegen den „inneren Frieden“ in unserem Land gerichtet hatten. Nach zahlreichen Urteilen, die gegen ganz kleine Lichter aus den Demo-Szene verhängt worden sind (z.B. nach Sitzblockaden), hätten diese „Tausende militanter Kurden“ allesamt in U-Haft genommen und abgeurteilt werden sowie für lange Zeit hinter schwedische Gardinen gebracht werden müssen.
Jedoch: Nichts davon. Wer sich am Parkautomaten vorbeimogeln will, darf vielleicht schon fünf Minuten später über eine saftige Verwarnung fluchen. Wer als Kurde Autobahnen blockiert, Polizisten verprügelt, eine „Herausforderung für die innere Sicherheit“ und eine „Kriegserklärung an unseren Rechtsstaat“ produziert[3], wird vorwiegend nur fotografiert und archiviert. Bis zum nächsten mal. So wiederum sieht es der Stammtischdeutsche, weil er es nicht anders sehen kann. Und wenn er es anders sieht, dann meistens nur, um es noch besser zu wissen, jedoch mit dem gleichen Ergebnis. Die besten Kandidaten für das Bundeskanzleramt stehen ja bekanntlich völlig unterfordert an Biertheken…
Überfordert scheint dagegen grundsätzlich zu sein, wer sich in der Politik herumtreibt.
Was sind überhaupt Parteien?
Wer tummelt sich in ihnen warum herum?
Im Prinzip kann man eine Partei gründen wie einen Karnickelzuchtverein. Die Regeln sind recht einfach zu ergründen und einzuhalten. Auf welche Schikane von Funktionären bereits „etablierter“ Parteien man stößt, die ja auch in Amtsstuben hocken, ist eine andere Frage.
Vereine sind nach Artikel 9 des Grundgesetzes auszurichten (siehe Seite 375 unter Dokumentation). In ihnen versammeln sich Gleichgesinnte, die Kaninchen oder Kanarienvögel züchten, vor Computern herumraten oder Rennen fahren wollen. Sie können dabei auch „gemeinnützige“ Zwecke verfolgen. Doch sie können über ihren Verein nicht in die Politik gehen. Wohl aber können sie, wie der ADAC, der auch bloß ein Verein ist, politischen Einfluß versuchen.
Parteien richten sich nach Artikel 21 des Grundgesetzes (siehe Seite 376). Wie bei Karnickelzuchtvereinen oder Schützenclubs kloppen sich diejenigen mit der größten Klappe und den frechsten Ellenbogen um die Posten. Und sie kriegen sie auch. Wie in kochender Suppe (da nennt man es „Abschaum“) schwimmt in den Vereinen das am wenigsten Gehaltvolle oft nach oben. Parteien können Politik machen und dadurch dem Artikel 20 des Grundgesetzes Genüge tun (aaO, Seite 376), wonach alle Staatsgewalt „vom Volke aus“ geht.
Der Hauptunterschied zwischen Vereinen und Parteien liegt in der Kompetenz ihrer Mitglieder. Wer Karnickel züchtet und in einen Verein geht, würde sich lächerlich machen, wenn er nichts von Karnickeln versteht. Wer in einem Computerclub mit anderen fachsimpelt, sollte sich wohl auskennen. Wer im Schützenverein sogar König werden will, muß schon ganz schön schießen und treffen können. Sollte er „den Vogel abschießen“, könnte ihm auch etwas Reichtum nicht schaden. In einem Briefmarkensammlerverein hat wohl jeder seinen „Michel“ bei der Hand, um selbst ein braver zu sein.
Und wie sieht es in den politischen Parteien aus, von denen doch die eigentliche „politische Willensbildung des Volkes“ (also aller wahlberechtigten Einwohner in diesem unserem Lande) geleistet wird? Eigentlich sollte man Berichterstattungen von „politischen Aschermittwoch“-Veranstaltungen oder Parteitagen nicht selten lieber unterdrücken. Da könnte breitbeinig eine nasepuhlende und an der baren Brust stillende Naturverbundene sitzen, um „basisdemokratisch“ über die naturverschandelnde Infamie von Energiewindmühlen oder über Gefahren schon bei der Forschung in der Gentechnik zu befinden. Oder ein schwitzender Fettwanst haut johlend mit der Faust auf die rohe Bohle, daß sich der Bierkrug von ihr schaumspritzend bis zum Zeltdach katapultiert.
Konkret wie in physikalischen oder mathematischen Kolloquien kann es natürlich in den Parteien kaum zugehen, weil ihr Stoff so wenig konkret ist. Zu ihm gehören das „Europäische Haus“, „Werte der freiheitlichen und demokratischen Ordnung“, der „Schutz der Ungeborenen“, die „Verpflichtung zu menschlichem Handeln“, das „Hochhalten unserer Ideale und moralischen Wertvorstellungen“, der „bildungspolitische Rahmen zur Sicherung der Zukunft unseres Volkes“ oder (konkret und ganz frisch aus der Rede des Kanzlers am 26.4.1996) der „Standort Deutschland für das 21. Jahrhundert“, „durchgreifende Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft“, eine „sichere Zukunftsgrundlage für unsere sozialen Sicherungssysteme“ sowie eine „Politik im Interesse der Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland und der Schaffung neuer Arbeitsplätze“. Das alles gehört zu griffigen und nicht einklagbaren Formeln, die sich in den Köpfen der Wähler kaum verfangen und auch nichts Konkretes auslösen.
Für all das jedoch, was hinter diesen Formeln steht, gehen Leute in die Parteien? Karnickelzüchter züchten Karnickel und suchen im Verein nach Verbesserungen. Schützen schießen. Computerfans kungeln und wollen Problemlösungen finden. Vogelliebhaber basteln an noch schöner singenden Kanarienhähnen. Aber Parteimitglieder? Wollen sie grüner werden, bessere Christen, sozialerer Sozialisten? – Wohl kaum; sie wollen an die Töpfe von Macht und Moneten, ohne selbst etwas hineinzutun. Irgendwann wird auch das geduldige Schaf belohnt und bekommt einen lukrativen Sitz in einem Aufsichtsrat oder ein Pöstchen in parteieigenen Unternehmen. Die Füchse indes, die Habichte, die Geier, erst recht die Adler, die Wölfe und die Löwen in den Parteien machen große Beute, suhlen sich in Privilegien und schanzen auch dem Hinterbänkler noch seine Studienreise nach Palavien zu. Experten? – Experten sind sie allemal, und was noch fehlen könnte, karren die Referenten herbei.
So hat sich, mangels griffiger Masse und problemfähiger Antennen beim Volk, die öffentlich wahrnehmbare Rauflust der Parteien auf verbale persönliche Attacken reduziert, wie sie in den Parlamenten gang und gäbe sind und auch den Kanzler einschließen, den politischen Geschäftsführer des Unternehmens Bundesrepublik. Ein mildes Beispiel:
„Wir haben – dies will ich besonders in diesen Tagen in Erinnerung rufen, wo aus naheliegenden Gründen von bestimmten Kreisen historische Erfahrungen der jüngsten Zeit gerne vergessen oder vernebelt werden – gleichzeitig in mehreren Schritten in diesen Jahren eine Steuerreform vorgenommen und die Steuerzahler um rund 60 Milliarden DM entlastet.
(Lachen und Zurufe von der SPD: Aber welche denn?)
- Sie waren ja zum Teil dabei. Wenn Sie dabei waren, wissen Sie: Es war eine ungeheuer erfolgreiche Politik.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Lachen bei der SPD)
- Meine Damen und Herren, ich habe nicht den Ehrgeiz, daß Sie dem Satz “Es war eine ungeheuer erfolgreiche Politik” zustimmen, aber die Wähler haben ihm zugestimmt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
-Und so stehe ich immer noch vor Ihnen, und Sie müssen mich immer noch ertragen. Ihre lauten Zwischenrufe haben Ihnen in diesen Jahren nichts genutzt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)“Die Politiker scheinen in einem Raumschiff über dem Volk zu schweben[4], von diesem über die Parteien abgesondert, immun nicht nur gegenüber dem Gesetz, sondern auch gegenüber ihrer angedichteten Verbundenheit mit dem Volk an sich. Es muß zu denken geben, wenn jemand wie Hildegard Hamm-Brücher mehr solcher Verbundenheit anmahnt.
Damit wären wir eigentlich auf elegante Weise wieder beim Hauptthema dieses Buches: bei den Abgeordneten, bei den ihnen gestellten Fragen, bei ihrer Kompetenz und vor allem bei den von ihnen nicht gegebenen (jedoch geschuldeten?) Antworten. Doch gehen wir zunächst noch weiter fremd, um unseren Denkapparat etwas zu ölen.
Bleiben die „Araber“, die wir im Zusammenhang mit den Kurden fanden. Sie gehören in eine Angstkategorie „Internationaler Terrorismus“. Von dieser Sorte Gewaltanwendung und Mißachtung menschlichen Daseinsrechtes sind die Medien fast täglich voll. Neben einigen Verrückten oder Verzweifelten, die sich mal eben ein Flugzeug kapern, um ihr Taschengeld aufzubessern oder ihre Tante aus dem Knast zu pressen, sind es vor allem verschiedene fanatische Kampfgruppen aus dem arabischen Lager, die Angst verbreiten können. Da mag man durchaus nach Palma de Mallorca einsteigen und in Beirut oder sonstwo landen, um sich von tobenden Karl May-Figuren schurigeln lassen zu müssen.
Das ist schlimm. Oft fehlt uns die Urteilskraft, überhaupt abwägen zu können, ob diese Leute sich für etwas „Gutes“ oder etwas „Schlechtes“ einsetzen. Tun die Terroristen Unrecht, indem sie sich gegen Unrecht wehren? Wer tut überhaupt wem Unrecht an? Über wieviele Jahre hat Arafat international Terror verbreitet und auch den Tod Unschuldiger (wer wäre denn überhaupt „schuldig“ gewesen?) verantwortet, um dann auch noch den Friedensnobelpreis zu erhalten? Müßte da nicht, wie in einer Kneipe zu hören war (jaja, die Stammtischdeutschen…!), jeder Dieb, jeder Mörder belohnt statt bestraft werden, wenn er mit dem Staat einen Handel macht und aufhört zu stehlen oder zu morden?
Man faßt es nicht…!
„Angst vor Drogen“ (siehe Seite 185) – das klingt schon wieder konkreter. Doch wer soll vor Drogen Angst haben? Der Vater, weil er drogensüchtig werden könnte? Oder die Mutter, weil sie heroinsüchtig werden könnte? Fliegen Drogen einfach herum, daß man sie versehentlich einatmen könnte? Nein, aber die Kinder, die noch labilen und unreifen, mit ihren eigenen und von den Eltern oft nicht wahr- oder ernst genommenen Problemen, könnten verführt und abhängig werden? Sie selbst – eben noch unreif und labil – mögen die Gefahr abtun und bei anderen alles für möglich halten, nur nicht bei ihnen selbst – doch dann, schwupps, ist es passiert: der gute Freund oder die gute Freundin haben auf einer Party kosten lassen.
„Angst vor Kernkraft-Katastrophen“, die muß man tatsächlich haben. Offenkundig haben Politiker mit der Kernkraft gespielt wie mit Streichhölzern, obgleich sie wissen mußten, daß es Streichhölzer und nicht etwa Murmeln sind. Aber sie hatten so zu tun, als sei Feuer wie Wasser, weil andere ihr Geschäft damit machen wollten. Oder war es anders? Wenn die Kernkraft unabwendbar notwendig war, wie kann es dann salonfähig sein, Überlegungen zu einem Ausstieg aus der Kernenergie auch nur zuzuhören? Oder ist das Gerede vom „Ausstieg aus der Kernenergie“ auch nur eines der Ablenkungsmanöver, mit denen in Wahrheit nur bewirkt werden soll, daß das Ungeliebte als scheinbar „nur noch vorübergehend“ weiter bestehen kann?
Es hat rund 50.000 Jahre gedauert, bis aus dem Urmenschen das wurde, was heute vom Sofa aus über Satellitenkanäle zappt, mittels Tastatur und Bildschirm die ganze Welt über das Internet bereist, per Düsenjet „mal eben“ für ein Wochenende nach Mallorca zu einer Kegeltour aufbricht oder über Jahre vor der gesamten Weltpresse mit bequemen Tötungsmaschinen eigene Landsleute barbarisch hinmetzelt.
Diese „hochzivilisierten“ Menschen sollen nun die nächsten 50.000 Jahre damit verbringen, die Gräber für Atommüll absolut sicher zu bewachen und dafür zu sorgen, daß niemand zu dem Müll und der Müll in keiner Weise zu den Menschen dringen kann. Das kann wohl nur derjenige als ernsthaft in den Raum stellen, der innerlich bereits davon ausgeht, daß der Menschheit nicht einmal mehr ein Bruchteil dieser 50.000 Jahre auf diesem Globus beschieden ist.
„Angst vor Aids“ kann nur haben, wer selbst Anlaß dazu schafft oder unbedacht vorgeht.
„Angst vor Gentechnik“ mag haben, wer nicht weiß, was Gentechnik ist. Der größte Gentechniker aller Zeiten war und ist die Natur selbst. Wenn wir Menschen die Fortsetzung und Potenzierung unserer kulturellen Evolution auch darin sehen wollen, daß wir geistige Arbeit von Maschinen verrichten lassen und industrialisieren, warum soll dann im biologischen Raum eine Grenze gezogen sein? Wer und mit welcher Kompetenz schürt oder verharmlost diese Angst vor Gentechnik?
„Angst vor Überbevölkerung“ äußern wohl ausgerechnet jene Bevölkerungsteile, deren politische Vertreter (demokratisch oder nicht) alles daran gesetzt haben, die Überbevölkerung anzuheizen. Eine riesige Industrie von Hilfsorganisationen lebt davon, „arme“ Menschen aus ihren traditionellen Lebenssphären herauszureißen, ihnen Anschauungen, Lebensweisen und Hilfsmittel anzupreisen und „helfend“ aufs Auge zu drücken, die nur in hochindustrialisierten Lebensräumen Bestand haben können. Da werden Babys, die sonst nach der Geburt gestorben wären, durchgepäppelt, bis sie nach wenigen Jahren mit Storchenbeinen und aufgeblähten Bäuchen dennoch krepieren. Zeugungsfähige Männer und gebärfähige Frauen, die unter den „normalen“ Bedingungen ihres ethnischen Lebensraumes untergegangen wären, können sich dank fremder Hilfe (Einmischung) vermehren und neue Not zeugen, die sich vermarkten läßt.
Wo wäre denn Anlaß zu einer „Angst vor Überbevölkerung“, wenn die Welt in der Mitte des 19. Jahrhunderts stehen geblieben wäre? Wo wäre sie, wenn es die Medien nicht gäbe, mit deren Hilfe sich „Not“ so mitleidheischend darstellen läßt und die Industrie der Hilfsorganisationen auf volle Touren gebracht werden kann? Und wo wäre unsere Angst, daß Biafra über Gibraltar nach Europa einmarschieren könnte, wenn wir unseren Wohlstand nicht via Satellit in die Welt strunzen würden?
„Angst vor Nationalismus“ – Was soll das überhaupt sein? Hat man erst gefragt, ob jemand weiß, was Nationalismus ist oder was man darunter zu verstehen gedenkt? Wer einen Thesaurus seiner Textverarbeitung bemüht, findet als Ersatz für „Nationalismus“ die Worte Patriotismus, Heimatliebe oder auch Vaterlandsliebe. Und fragt er für „Patriotismus“ nach, kann er auf Nationalbewußtsein, Nationalstolz und Nationalismus stoßen.
„Angst vor Kommunismus“ – wer hat die noch?
„Angst vor Kapitalismus“ – die muß man freilich haben, wenn man davon ausgeht und teilweise schon miterlebt, daß er sich ungehemmt austoben kann. Dazu werden wir noch verschiedene Aspekte in diesem Buch sehen.
„Angst vor Autoritärem Staat“ – wohl wahr: eine sehr begründete Angst… – belegt sogar durch den Kanzler Kohl. Zwei Sätze aus seiner Rede am 26.4.1996: „Die Menschen in Deutschland haben längst begriffen, daß wir echte, durchgreifende Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft brauchen, um mehr Wachstumsdynamik zu ermöglichen und Beschäftigungshemmnisse zu beseitigen.“ – „Um mehr Arbeitsplätze aufzubauen, müssen wir den Standort attraktiv machen, die Belastungen der Wirtschaft abbauen, Steuern, Abgaben und Lohnkosten senken, überflüssige Regulierungen beseitigen, rascher die notwendigen Innovationen auf den Weg bringen und vor allem die Arbeitswelt flexibler machen.“
Bei den überflüssigen Regulierungen hätte der Kanzler auch sagen können, wer diese Regulierungen denn eingeführt hatte und auch mit Zwang durchzusetzen bereit war. Andere hätten ihm vielleicht sagen können, ob die Überflüssigkeit vieler Regulierungen nicht schon vor der Einführung beklagt wurde. Man kann einen „Standort attraktiv machen“ nur dann, wenn er attraktiv nicht ist. Aber wer ist seit 1 ½ Jahrzehnten dafür verantwortlich, daß er unattraktiv wurde? Wenn man dazu „die Belastungen der Wirtschaft abbauen“ muß – wer hat sie denn wuchern lassen? Falls man „Steuern, Abgaben und Lohnkosten senken“ muß – wer hat sie denn so exorbitant klettern lassen?
„Angst vor Autoritärem Staat“ beinhaltet sicher auch eine „Angst vor zu viel Staat“. Die wiederum dürfte gekoppelt sein mit Angst vor fehlerhaftem und dünkelhaftem Staat, der sich vornehmlich in Willkür mediokrer Bürokraten austoben kann. Nirgendwo haben „Fehler“ oder eher schädliche als nützliche Normen so heftigen und folgenreichen Bestand wie dort, wo sie mit Macht und heimlichen Interessen verquickt sind und an biederen Bürgern ausgelassen werden. Die Verselbständigung eines Systems, wie es auch eine Regierung samt ihrer sie tragenden Parteien sein kann, wuchert offensichtlich proportional oder gar exponentiell mit ihrem zeitlichen Bestand. Übermut tut selten gut, hat jedoch anscheinend große Ausdauer.
Ist die einzige noch wirksame „Opposition“ in vielen Fällen nur noch die Furcht vor der öffentlichen Blamage durch die Medien? Ist die Politikverdrossenheit der Bürger, ist deren Mißtrauen gegen den Staat nicht längst in einen offenen Krieg eingemündet, in dem der Staat unbotmäßige Bürger zusammenknüppeln läßt? Hat jemand die Gorleben-Bilder im ZDF gesehen, auf denen die Polizei einen Bauern aus seinem Trecker zerrte, nachdem sie diesen erst demolierte hatte? Konnte der behinderte Wasserwerfer nicht um den Trecker herumfahren?
„Politik“ und „Demokratie“ werden in Wahrheit gehandhabt wie eine Religion, die sich um die materiellen Belange der Bevölkerung kümmern soll, während deren seelisches Heil einschließlich Dämpfung der „ozeanischen“ Ängste Angelegenheit der Kirchen ist. Eine Arbeitsteilung, notwendig und nützlich, weil Völker größer sind als Familien, die unter einem Dach wohnen, unhandlicher als ein Clan, der auf einer Länderei hockt, und schwerer zu managen als ein Stamm.
Dem religiösen Fanatismus, mit dem im Morgenland gepredigt, beschlossen, gehandelt und gekämpft wird, steht bei uns die wilde Entschlossenheit der Politik gegenüber, einmal zementierte Bestimmungen und Verfügungen mit allen Mitteln zu realisieren. Dabei knüppeln auch schon mal Polizisten, die als private Bürger ebenso denken und fühlen wie ihre Opfer, gnadenlos auf Gesinnungsbrüder ein. Die Uniform verlangt es so. Ihnen steht nicht zu, darüber nachzudenken, ob die Grenze von Unrecht, hinter der Ungehorsam und Widerstand zur Pflicht werden können, vom Staate selbst vielleicht schon überschritten ist. Jeder Bürger, der sich über die Ajatollahs und Mullahs lustig macht oder über den starken Durchgriff des Islam in der morgenländischen Politik mokiert, sollte sich an seine abendländische Nase fassen: Wieviele Entscheidungen hängen bei uns vom religiösen Etikett ab, das Vorgängen und betroffenen Personen aufgeklebt ist? Warum gibt es evangelische Krankenhäuser, katholische Schulen oder konfessionelle Vorgaben bei der Besetzung von Pöstchen? Wieso gibt es „christlich-soziale“ oder „christlich-demokratische“ Parteien?
Wir sehen in den fundamentalistischen Strömungen bei den Moslems nur deshalb eine Gefahr auch des Überschwappens in unseren Kulturraum, weil wir unterschwellig davon wissen, wie sehr Religion bei uns selbst zum bloßen Etikett verkommen ist. Dagegen führen uns die täglichen Nachrichten vor, wie sehr der Islam das gesamte Leben der Moslems durchzieht, wie sich die Gläubigen bei ihren Ritualen zu Boden werfen, mit welchem Feuereifer ihre Autoritätsfiguren den „heiligen Krieg“ beschwören. Ebenfalls unterschwellig ahnen wir, daß unsere Verbundenheit mit Religion nicht mehr taugt, dagegen an zu halten. So bleibt uns nur das Ausweichen auf „Recht und Ordnung“, von denen wir ebenfalls ahnen, daß sie längst zu einem käuflichen Gut für Privilegierte geworden sind. „Angst vor Autoritärem Staat“ mag deshalb vor allem auch als Angst vor Rechtlosigkeit und sozialem Abstieg zu interpretieren sein.
Die „Angst vor Naturkatastrophen“ bedarf wohl kaum eines Kommentars. Wer sein Haus am Rhein unterhalb der höchsten Überschwemmungsmarken der letzten Jahre baut, ist einfach dumm. Wer sein Haus nicht erdet und auch keinen Blitzableiter montiert, ist dumm. Schon die Bibel rät, nicht auf Sand zu bauen. Und wer trotz heraufziehenden Unwetters in karstiges Gebirge aufbricht, ist dumm. Um ein Haus auf Sylt zu kaufen, sollte man schon ein anderes haben. Aber wer alle nur denkbare Vorsicht walten läßt, ist nicht sicher davor, das Opfer einer Naturkatastrophe zu werden. Die Gefahr ist je nach Region stärker oder schwächer; gänzlich auszuschließen ist sie nicht.
Doch weshalb werden Menschen zur Skalierung ihrer Ängste ausgerechnet nach der „Angst vor Naturkatastrophen“ gefragt? Um durch die Menge möglicher Ängste von jenen Ängsten abzulenken, die wirklich von Bedeutung wären und gegen die man durchaus etwas tun könnte?
Bleibt noch die „Angst vor Weltuntergang“. Die gab es wohl immer schon.
Allerdings ist jetzt die Möglichkeit eines selbstgemachten Weltunterganges hinzugekommen, für den der liebe Gott nicht verantwortlich wäre. Denn „verantwortlich“ dafür, wenn sich diese Welt irgendwann ins Weltall sprengt oder unbewohnbar würde, wären die Menschen selbst und von diesen nur eine einzige bestimmte Clique: die Politiker. Ihnen kann man nur zugute halten, daß sie ja möglicherweise „vom Volk gewählt“ waren und daß das Volk mit ihnen das bekommen hatte, was es verdiente („Denn die allerdümmsten Kälber wählen ihre Henker selber.“).
Da wäre es direkt eine elegante und durchaus akzeptable Lösung, wenn den Politikern ein Komet oder ein ausreichend großer Meteor zuvorkäme und hinter diese Welt einen Punkt schriebe. Der würde die Politik daran hindern, nicht auch noch das schlimmste Verbrechen an der Menschheit zu begehen. Wegen der nicht geringen Wahrscheinlichkeit, daß diese Welt nicht dazulernt und die Konsumgeilheit der Menschen Oberhand behält, könnte ein „natürlicher“ Untergang der Welt eher wünschenswert erscheinen – er würde alle mitnehmen und nicht einer privilegierten Schicht noch ein vorübergehendes Schlupfloch lassen…
Doch wo taucht die „Angst vor Schwarzarbeit“ auf? Na, wo ist sie denn? Wurde sie geflissentlich nicht abgefragt, etwa weil zu viele hochherrschaftliche Unternehmer davon profitieren? Oder hat sie sich in der „Angst vor zu vielen Ausländern“ versteckt, etwa vor den Polen auf Baustellen der Bundesregierung? – Aber wo ist sie denn dort bewußt?
Dabei ist Schwarzarbeit – ob nun von findigen Unternehmern illegal organisiert oder von cleveren Einzelgängern praktiziert – die schlimmste Art asozialen Verhaltens, die es überhaupt gibt. Sie „klaut“ legale Arbeitsplätze und bestiehlt die Staatsfinanzen.
Oder die „Angst vor Steuerhinterziehern“? – Nun aber Punkt! – Steuerhinterzieher – und zwar ein erfolgreicher – wäre man ja wohl selbst gern, wenn es genug zu versteuern gäbe. Tatsächlich ist es so, daß sich Steuerhinterziehung am meisten lohnt, wenn man viel verdient. Und das ist vor allem etwas für die „dicken Fische“, an die – so glauben die meisten – sich keiner herantraut.
Dem scheint zu widersprechen, was man zum Beispiel über Steffi Grafs Einkommen und Vermögen vernehmen konnte. Dieser Fall taugt aber nichts als Alibi für die Finanzbehörden. Im Visier steht nämlich Steffis Vater. Wer mag den schon…! Eine undurchsichtige Sexaffäre, Verschleuderung von Steffis Geld als Schweigegeld für ein uneheliches Kind, das dann aber gar nicht von ihm war. Steffis Abhängigkeit von diesem Kerl. Wer also mochte schon diesen „miesen Typen“?
Da war es für die Finanzbehörden ein leichtes Spiel, den krummen gräflichen Steuertouren mit großer Publizität nachzugehen, ohne ein nationales Symbol – „unsere Steffi“ – dabei zu beschädigen. Das Signal – „Seht, wir machen vor niemandem halt, wir packen jeden!“ – war gesetzt. Die Bürger sollten glauben, daß die Steuer ohne Ansehen der Person von jedem eingetrieben wird, der sie schuldig bleibt.
Und dann auch noch diese Steueraffäre in Niedersachsen! Da hatten doch tatsächlich mit Hilfe einer Bank, die der niedersächsischen Landesregierung nicht gerade fern steht, reiche Leute ihr Geld ins Ausland zu einem luxemburgischen Ableger gescheffelt. Dummerweise kam die Steuerfahndung ins noble Geldhaus, stellte Akten sicher und begann ihre Ermittlungen. Rund ein Jahr später schrieb die Bank ihre Kunden an und teilte ihnen mit, der Staatsanwalt habe mit der Auswertung der Akten und der Einleitung von Strafverfahren begonnen.
Und was passiert? – Reihenweise zeigen sich Steuerhinterzieher selbst an. Wer sich selbst anzeigt und die hinterzogenen Steuern nachzahlt, kann nämlich damit rechnen, ohne Strafe davon zu kommen. Mithin waren die „schlauen“ Steuerhinterzieher nichts anderes als wiederum schlau. Lieber zahlen, was man sowieso hätte zahlen müssen, als später bestraft zu werden, dann aber ebenfalls zahlen zu müssen und zusätzlich noch etwas aufgebrummt zu bekommen.
Später zog die WestLB (Westdeutsche Landesbank in Düsseldorf) nach, die sich den Besuch von Staatsanwälten und den Abtransport von riesigen Aktenbergen einhandelte.Die Grafs bekamen Gesellschaft von anderer Prominenz: Die „Schreinemakers live“-Moderatorin war mit ihrer verschachtelten Unternehmensdschunke auf deutsches Steuerriff gelaufen. Aber als sei es ein Naturrecht, durch den Druck verschiedener Briefbögen und durch die Gewerbeanmeldungen in verschiedenen Staaten Millionen bei unveränderter Geschäftslage am Staat vorbeizuschleusen, wollte diese Briefkastentante der Nation sogar im Fernsehen öffentlich Beschwerde führen. Dadurch kam es zu der Premiere einer Senderabschaltung: SAT1 machte das nicht mit…
Wie sagte Gregor Gysi in seiner Rede vor dem Bundestag (siehe Seite 347)?
- „Bei den sozial Schwächeren in unserer Gesellschaft wird immer gesagt, wir brauchen neue Gesetze, um den Sozialmißbrauch in diesem oder in jenem Falle auszuschließen. Da sitzen ganze Expertengruppen und denken darüber nach, wie man verhindern kann, daß irgendwo in Hamburg oder in Erfurt eine Sozialhilfeempfängerin 10 DM zuviel bekommt. Aber bei den Vermögenden argumentieren Sie immer umgekehrt. Da sagen Sie: Wir können die nicht höher besteuern, denn dann halten die sich nicht an die Gesetze; dann beschäftigen sie die Dienstmädchen eben schwarz, oder sie begehen Kapitalflucht; und bevor die kriminell werden, schenken wir es ihnen lieber. Das ist Ihre Argumentation, die Sie hier im Ernst anbieten.
(Heiterkeit und Beifall bei der PDS — Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Was wissen Sie schon von Kapitalflucht? Mein Gott!)
Mit diesem Argument können Sie auch den Diebstahlsparagraphen abschaffen, weil er häufig verletzt wird. Das ist wohl keine sehr günstige Ausgangsposition, die Sie hier gewählt haben.
Natürlich gibt es Kapitalflucht. Wissen Sie was? Dann besteuern Sie doch endlich die Kapitalflucht! Steuern heißen Steuern, weil man damit steuern kann. Wenn Sie nicht wollen, daß das Kapital ins Ausland geht, dann machen Sie den Gang des Kapitals ins Ausland steuerpflichtig. Dann bricht Ihre ganze Argumentation zusammen, die Sie hier anbieten, wenn es um höhere Steuern für wirklich Reiche und Vermögende geht.“Der kleine Mann auf der Straße fragt sich immer wieder, auf welche Weise derart viele Leute so viel Geld scheffeln (und dazu anscheinend auch noch „schwarz“), daß sie ungezählte Millionen ins Ausland verschieben können, und warum der Staat so wenig tut oder so wenig Erfolg vorzeigt, diese Leute als das zu fangen und zu brandmarken, was sie in Wahrheit sind: Diebe. Und er sagt sich, daß wahrscheinlich alle unter einer Decke stecken, der Staat, „die Politiker, die die Gesetze machen“, die Industriebosse, die prominenten Steuerberater und Juristen, ja sogar manche Fachminister höchstpersönlich mit ihrem Machtwort, wenn endlich einmal herauskommt, daß auch große Geschäftsbanken bei der Kapitalflucht lukrativ mitgemischt haben.[I]
Der kleine Mann faßt sich an den Kopf und wählt jene Leute wieder, denen er sogar den größten Betrug am Wähler zutraut. Nach „Angst“ vor den Folgen von Steuerhinterziehung oder von Schwarzarbeit zu fragen, scheint sich jedoch nicht zu lohnen…
Oder auch die durchaus begründete „Angst vor Rentenverfall“. Nach ihr wurde nicht gefragt. Die WAZ brachte auf ihrer Titelseite am 7.5.1996 die Schlagzeile „Kohl gibt keine Garantie für die Rente“. Monate und Jahre zuvor war immer nur die Rede davon, die Renten seien „sicher“. Nachdem aber die aufgehäuften Reserven der Beitragszahler für Leistungen geraubt wurden, die eigentlich vom Steuerzahler, also vom ganzen Volk hätten erbracht werden müßten, war die Sicherheit dahin, bemühte sich die Regierung, den Einzahlungszeitraum zu strecken und die Leistungen zu kürzen.
Warum etwa sollen die Renten, die im Zusammenhang mit Naziverbrechen an Juden fällig wurden, ausschließlich von den Söhnen und Enkeln der Täter aufgebracht werden, die Arbeitnehmer sind? Warum nicht vom ganzen Volk, auch von den Unternehmern und insbesondere von den behördlichen Amtsträgern, die heute oft schon wieder viel näher an „Schuld“ sind als die kleinen Leute, die sich höchstens auf dem Stimmzettel kreuzigen?
Warum auch zum Beispiel sollen Renten für neu erworbene Bürgermillionen des jetzigen deutschen Volkes nicht aus dem Volksvermögen insgesamt gezahlt werden, statt nur aus den Kassen der Arbeitnehmer, die sich jetzt (mit Recht?) bestohlen fühlen. Wer plündert oder schont da wen und aus welchem (nicht sichtbaren) Grund?
Daß es gerade für vorausplanende Sparer noch schlimmer kommen würde, war lange nicht sichtbar. Es gibt Bürger, die dem Aufruf des Staates gefolgt sind und für ihr Altenteil in Aktien „erster Adressen der deutschen Wirtschaft“ investiert haben. Am 7. September 1996 äußerte sich die Westdeutsche Allgemeine: „Die Aktionäre fühlen sich gerupft. Über 20 Firmen streichen die Körperschaftssteuer-Gutschrift.“ Völlig legal gewährten etwa die Degussa AG oder die Allweiler AG diese Gutschrift nicht mehr, weil sie ihre Dividende „nur noch aus Erträgen von Auslandstöchtern ermöglicht, weil im Inland nichts mehr läuft oder weil man wegen eines steuerlichen Verlustvortrages keine Ertragssteuern zahlen muß“. Folge: „Vor allem für Rentner und Pensionäre, die auf regelmäßige Dividenden-Einkünfte gebaut hatten, wirkt sich das so aus, daß sie gezwungen sind, ausgerechnet an ihrem Lebensabend den Gürtel enger zu schnallen.“
Den Ausflug in das Angstrevier der Bundesbürger haben wir uns geleistet, um einmal zu beleuchten, was als Problem dargestellt wird, als sei es mehr oder weniger abhängig von einem Wettergott, in Wirklichkeit jedoch zu den vielfältigen Früchten gehört, die von Politikern produziert wurden.
Weitergehend wollen wir jetzt aber wirklich nach der Antwort auf die Frage fahnden, ob „das Netz“ an dem sichtbaren Schlamassel etwas ändern kann. Von den vollmundigen Ankündigungen wissen wir ja noch (Seite 23). Aber nach all dem, was sich später zeigte, muß es eine Ursache dafür geben, daß Abgeordnete mit Internet-Zugriff nur mit Ausnahmen auch nicht mehr taugen als Abgeordnete ohne.
Warum? – Diese Frage habe ich mir auch gestellt und sie weitergegeben. Was nutzen lichtschnelle Medien, wenn sie die Schneckenpost (auch als snail mail bezeichnet) auf den Schreibtischen nicht überholen?
Zunächst muß hier an eine Meinungsäußerung von Günther Leue† (Seite 140) erinnert werden. Man „trägt“ halt eine Internet-Adresse, weil es Mode zu sein scheint; man „schmückt“ sich damit. Doch wer dem alten Mailbox-Guru Leue Parteilichkeit vorwerfen will, mag sich lieber auf das stürzen, was in der Presse gemeldet und via Mailbox weitergereicht wurde (bereits zitiert auf Seite 166):
ID: 5965349GEOD
Nachricht von: GEO9:G.LEUE
Betrifft: Für Dich gefunden .. (in Mensch & Büro 2/96)
Abgesandt am: 03-05-96, 12:10:16
Empfänger: GEOD:M.L.SCHUERMANNHallo Manfred:
Für den Fall, daß Du das nicht schon für Deine Sammlung hast … die nachfolgende Notiz fand ich gestern während einer Bahnfahrt in der ausgehängten Zeitschrift MENSCH & BÜRO.
„Politik – Netz-Abstinenz.
Der Bundestag hat kein Interesse an Online-Diensten. Selbst Präsente für den Zugang werden verschmäht.Zwar wird der Bundeskanzler inzwischen begriffen haben, daß mit “Information Highways” keine Straßenverkehrswege gemeint sind, aber mit der Nutzung dieser modernen Informations- und Kommunikationstechnik ist es in Bonn nicht weit her. Der Deutsche Multimedia Verband stellte fest, daß nur sechs von 650 Abgeordneten über einen PC mit Modem verfügen, also von der Hardware-Seite her netztauglich sind. Um Ihnen auf die Sprünge zu helfen, stellte er als Weihnachtspräsent allen deutschen Volksvertretern die Zugangssoftware für sämtliche deutschen Anbieter von Online-Diensten zu Verfügung. Damit sie zukünftig wissen, wovon sie reden. Und damit sie sich nicht mehr durch meterdicke Papierstapel wühlen müssen, um gezielt an nützliche Informationen zu kommen. Allerdings stieß die freundliche Geste auf keinerlei Resonanz. Auch das ist ein deutlicher Hinweis auf den “Standort Deutschland”.“
Gruß
Günther
Reicht das? – Es muß reichen. Es hätte keinen Sinn, nun noch weiter zu machen. Doch ganz fertig mit dem Ausflug zur neuen Wolke 17 der Bundestagsabgeordneten sind wir noch nicht.
Jetzt ist noch das Versprechen von Seite 187 („Wie das?“) einzulösen.
Dazu kann es ganz nützlich sein, sich erst einmal die Rede von Rudolf Scharping anzusehen, die er am 8. Mai 1996 bei einer aktuellen Stunde im Bundestag hielt:
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile das Wort dem Vorsitzenden der SPD-Fraktion, Rudolf Scharping.
Rudolf Scharping (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte diesen einmaligen parlamentarischen Vorgang festhalten, daß die Regierungsfraktionen jede Debatte über ihre eigenen Vorschläge verweigern.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)
Ich finde es eine grobe Mißachtung des Parlaments und einen politischen Skandal ersten Ranges, daß sich ein nicht zuständiger Minister, was sein gutes Recht ist, in Interviews zur Rentenversicherung äußert, einem Teil der Debatte beiwohnt, dann flugs durch die Türen verschwindet
(Zurufe von der CDU/CSU)
– oh, Entschuldigung, Herr Seehofer — und dem Parlament jede Antwort auf die Frage verweigert, was denn nun mit der Rentenversicherung, dem sensibelsten Thema des Sozialstaates überhaupt, in Zukunft geschehen soll. Unerträglich!
(Lebhafter Beifall bei der SPD — Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der PDS)
Ich finde es unerträglich, daß sich der Bundesfinanzminister vor der Jungen Union in Bayern äußert, dem Deutschen Bundestag aber jede Antwort auf die Frage verweigert, was seiner Ansicht nach in Zukunft mit der Rentenversicherung geschehen soll.
(Lebhafter Beifall bei der SPD — Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ich finde es unerträglich, daß bestimmte Mitglieder der Regierungskoalition Zeit haben, sich morgens ins Fernsehstudio zu setzen, aber nachmittags dort, woher sie ihre Bezüge erhalten und wo sie Verantwortung gegenüber den Wählerinnen und Wählern zu tragen haben, jede Antwort auf die Frage verweigern, was sie in Zukunft mit der Rentenversicherung vorhaben.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)
Ich finde es unerträglich und einen politischen Skandal ersten Ranges, daß sich Mitglieder dieses Hauses von einer Fraktionsführung den Mund verbieten lassen, nach der Methode: Wir wollen erst einmal in Kommissionen reden.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)
Wie Sie mit Ihrem Selbstbewußtsein umgehen, das ist nun wirklich Ihre Sache. Aber die Rentnerinnen und Rentner in Deutschland, die Wählerinnen und Wähler — das deutsche Volk — haben Anspruch darauf, daß in diesem Parlament von denen, die die Mehrheit haben, gesagt wird, was sie vorhaben, und daß sie offen darüber reden, anstatt jede Debatte zu verweigern. Das ist empörend, es ist unerträglich, es ist eine Mißachtung des Parlaments, es ist eine Mißachtung der Wählerinnen und Wähler!
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)
Wenn der Bundesarbeitsminister sagt, er halte an der lohnbezogenen und beitragsfinanzierten Rente fest, dann nehme ich das ernst und zur Kenntnis.
(Dr. Heiner Geißler [CDU/CSU]: Der ist zuständig!)
– Wer bei Ihnen zuständig ist! Herr Kollege Geißler, dazu will ich Ihnen eines sagen: Zuständig ist offenbar überhaupt niemand mehr; es quatscht jeder bei dem sensibelsten Thema herum. Und auch Ministerpräsidenten, die etwas sagen könnten, halten im Parlament den Mund und äußern sich draußen. Ob Herr Blüm in dieser Koalition noch irgend etwas zu sagen und zu beeinflussen hat, daran habe ich angesichts der Gesetze, die Sie vorlegen, erhebliche Zweifel.
(Beifall bei der SPD und der PDS)
Deswegen möchte ich für die SPD-Fraktion festhalten: Die politische Auseinandersetzung nicht im Parlament, nicht durch Diskussion, nicht durch Argumente und nicht durch Information der Bürgerinnen und Bürger zu suchen, sondern mit allerlei Interviewäußerungen Verunsicherung und Angst zu säen und den Menschen allerlei Hinweise zu geben, ohne konkret zu sagen, was geschehen soll, ist ein Verhalten, das sich selbst richtet. Sie haben die Wählerinnen und Wähler belogen; Sie haben die Rentnerinnen und Rentner betrogen. Wir werden darauf hinwirken, daß Sie die Quittung dafür bekommen.
Es ist — ich wiederhole es — unerträglich, wie Sie sich im Parlament verhalten.
(Widerspruch bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Es ist auch nicht hinnehmbar, daß sich die Bundesregierung in dieser Weise verhält. Wenn Sie so weitermachen, ruinieren Sie die Glaubwürdigkeit politischer Institutionen, nicht nur Ihre eigene — das könnte uns egal sein.
(Anhaltender lebhafter Beifall bei der SPD — Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der PDS)Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Die Aktuelle Stunde ist beendet.Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
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Fortsetzung >2: http://www.lokalkompass.de/284422(klick!)
Autor:Manfred Schuermann aus Essen-Ruhr |
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