20.000 Unterschriften

Merkwürdige Prioritäten gibt es hier in Deutschland. Da ist irgendwem aufgefallen, dass ein Doktortitel auf nicht ganz einwandfreie Weise erworben wurde. Nun ja. Immerhin. Keine Kleinigkeit! Der Doktortitel wurde aberkannt. Öffentlich. Ein beschämendes Erlebnis, das sicher nicht nur im Menschen Spuren hinterlässt, sondern diesem lebenslang nachhängen und der Karriere desselben sicherlich dauerhaft schaden wird.

Aber das reicht offenbar nicht. Seit Wochen hört man aus Berlin fast nur noch Begriffe wie ‚Doktortitel’, ‚Plagiat’, ‚Rücktrittsforderung’… Morgens, mittags, abends nachts – andere Themen scheint es dort kaum noch zu geben. Mein Gott! Welche Energie hier plötzlich den einen oder anderen sonst so unscheinbaren Mandatsträger beflügelt. Ruck zuck gibt es auch schon 20.000 Unterschriften, die einen Kopf fordern…

Nun stellt sich doch die Frage: Warum eigentlich wurde in der Vita des Herrn zu Guttenberg gewühlt? Warum wurde der Doktortitel überhaupt hinterfragt? Wer hat das veranlasst und aus welchem Grunde? Es muss hierfür einen konkreten Anlass geben – es gibt immer einen!

Seit geraumer Zeit scheint es in der deutschen Politik vorrangig darum zu gehen, einen Makel am Gegner zu finden. Und je erfolgreicher einer ist, umso aggressiver wird attackiert. Wer es wagt neue Wege zu gehen, wird zur Zielscheibe Nummer 1. Ist dieses systematische Zielschießen zur wichtigsten Aufgabe unserer amtierenden Politiker geworden?

Das Wohl des Volkes: wen interessiert das noch? Geht es in der deutschen Politik überhaupt noch darum, was Deutschland braucht, welche Maßnahmen aus aktuellen Krisen helfen, welche Beschlüsse dieses Land nach vorn bringen?

Frage: Wie viele derer, die da unterschrieben haben, haben im Zuge ihrer Laufbahn selbst geschummelt und können einfach nur froh sein, nicht erwischt worden zu sein?

Zudem fragt man sich:
- Wo sind all die Berufsempörten, wenn es um ungerechte Verteilung oder gar sinnlose Verschwendung öffentlicher Gelder geht?
- Wo sind all die Berufsempörten, wenn Europa bestimmt, ob hier im eigenen Lande Schwerstverbrechern nachträglich eine Sicherheitsverwahrung zugemutet werden kann?
- Wo sind all die Berufsempörten, wenn bereits kurz nach der Wahl wichtige Wahlversprechen über den Haufen geworfen werden – ist das nicht Wahlbetrug? Hat das nicht jede Regierung bisher schon vollbracht?
- Wo sind all die Berufsempörten, wenn es um die Verlängerung der Laufzeiten von AKWs geht – allen Risiken und der Erkenntnis zum Trotz, dass erneuerbare Energien tatsächlich eine Alternative bilden können?

Diese Liste könnte man wohl noch um viele Punkte erweitern. Es gibt so viele wichtige Themen in Deutschland. Hier hört man allenfalls mal leises Murren vom Volk, aber wo bleiben die Unterschriften?

Die Süddeutsche twittert: „Plagiatsaffäre: Ein Sargnagel für das Vertrauen in unsere Demokratie.“

Ich für meinen Teil halte überhaupt nichts von derart destruktiver Politik. Das Vertrauen in unsere Demokratie habe ich lange schon verloren und das auch bereits in meinem offenen Brief vom 16. September 2010 (http://www.ilia-faye.de/pdf/OffenerBrief.pdf) „[…] kann ich Begriffe wie ‚Zivilisation’, ‚Demokratie’ […] nur noch in Frage stellen“ zum Ausdruck gebracht. Dieses Vertrauen wird nicht besser und nicht schlechter durch die Enthauptung eines Ministers – völlig egal ob mit oder ohne Doktortitel, völlig unabhängig von irgendeiner Partei-Zugehörigkeit.
Dieses zeitraubende Gehacke, das nunmehr seit Wochen die Schlagzeilen füllt, erscheint mir wie der pöbelhafte Blutdurst, der unübersehbar vorherrschte, wenn vor mehreren hundert Jahren Hexenurteile vollstreckt wurden.

Diese persönliche Meinung mag auch daran liegen, dass ich nicht vor Erfurcht zerbrösle, weil irgendein ‚Doktor’ vor mir steht. Ich selbst beurteile die Fähigkeiten eines Menschen nicht anhand seines Titels, sondern anhand aktueller Leistungen. Und angefeindet wird meiner Erfahrung zufolge immer der besonders, der gute Leistungen aufweist – während die, die am lautesten schreien, in der Regel über geringere Fähigkeiten verfügen…