Kolumne "Blick ins Leben" von Heidi Prochaska

Ein Ding der Unmöglichkeit

Ich verbringe das Wochenende bei einem guten Freund. Er sagt mir, dass er sich sehr auf mich freue und, wenn ich schon mal da wäre, ihm ein bisschen zur Hand gehen könne. Er lege gerade einen Dachgarten an. „Kein Problem“, entgegne ich bereitwillig. Ein wenig körperliche Arbeit tut mir gut denn ich sitze mal wieder viel am Schreibtisch. Gemeinsam mit einem Nachbarn beginnt er am nächsten Morgen jede Menge Folien und Stoffbahnen aufs Dach zu schaffen. „Du kannst uns helfen“, höre ich von weitem seine Stimme, „wir brauchen gleich Kies und Erde. Steht alles in der Einfahrt.“

Ich sehe kleine und große Säcke mit entsprechenden Kiloangaben. 25 kg Kies und 50 Liter Erde. Zupackend nehme ich den ersten Sack Kies auf meine Arme, trage ihn 15 Stufen hoch und circa 20 Meter weit bis zum Eingang des Hauses. Der Kies ist verdammt schwer. So geht das nicht. Das Schleppen der Säcke wird meinen Rücken ruinieren. Ich organisiere eine Sackkarre und zerre den Plastiksack auf dieses Hilfsmittel. Langsam aber stetig ziehe ich die Karre rückwärts über die Stufen nach oben. So ist es immer noch nicht leicht, aber machbar. Nach fünf Säcken bin ich nassgeschwitzt und ziehe funktionalere Kleidung an. Ich zähle die Säcke und beginne zu rechnen. Wenn ich die Hälfte schaffe, habe ich 250 kg transportiert. Nicht schlecht für das schwache Geschlecht. Mein Ehrgeiz erwacht. Aufgeben ist uncool, also mache ich weiter und setze einen mentalen Haken nach 500 kg Transportgewicht.

„Was mache ich mit den 50 Liter Säcken“, frage ich mich ernsthaft, denn diese Gewichtsklasse kann ich nicht mehr alleine auf die Karre hieven. Die beiden Männer nehmen mein Problem nur flüchtig wahr. Sie dichten das Flachdach ab. Aus alter Erfahrung weiß ich, dass es eine ganz schlechte Idee ist Männer bei der Arbeit zu stören und etwas von ihnen zu wollen. Statt wildem Aktionismus denke ich nach. Alte Physikkenntnisse liefern schließlich die Idee. Ich setze die Schwerkraft ein. Die beiden Holme, die zu den Griffen führen, nutze ich als Rutsche. Ich stelle die Karre schräg an und zerre den ersten Sack Richtung Transportposition. Geschafft. Das doppelte Gewicht merke ich bei jeder einzelnen Stufe. Ich arbeite langsam und fokussiert. Wie ein Roboter transportiere ich Sack für Sack vor die Haustür. Ich tue einfach nur, was zu tun ist, ohne zu denken. In zweieinhalb Stunden befördere ich 1.750 kg oder knapp zwei Tonnen mit einer Sackkarre 675 Stufen hoch.

Hätte man mir die Aufgabe im Vorhinein beschrieben: ich hätte abgelehnt und sie als unmöglich bezeichnet. Der Mensch wächst mit seinen Aufgaben – dieses Sprichwort nehme ich in diesem Fall persönlich.

Autor:

Heidi Prochaska aus Essen-Borbeck

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