Apokalypse für Anfänger (3)
Tobias (46) ist mit zwei Brüdern in Altendorf aufgewachsen, die Mutter schlug sich mit Gelegenheitsjobs und Putzstellen durch, geschieden und alleinerziehend, der Vater verließ die Familie wegen einer anderen, jüngeren Frau, und lebte in Wuppertal. Kontakt hatten sie selten, und wenn, dann gab es regelmäßig Stress und Streit zwischen den Eltern. Der Vater zahlte nur unregelmäßig Unterhalt, hatte bereits ein weiteres Kind mit der neuen Frau. Tobias Verhältnis zum Vater war schon immer sehr schwierig. Seine Eltern begannen schon früh, sich zu streiten, und sein Vater verbrachte viele Nächte in Kneipen und Bars, kam oft sehr angetrunken nach Hause, und einmal eskalierte ein Streit so sehr, dass Nachbarn die Polizei rufen mussten.
Die fehlende Fürsorge des Vaters, das zerrüttete Verhältnis der Eltern, und die Tatsache, dass auch die Mutter völlig überfordert war mit der Erziehung von drei heranwachsenden Jungen führte dazu, dass Tobias nie gelernt hat, richtig mit Konflikten und Problemen umzugehen. Schon früh begann er Alkohol zu trinken, wurde bei Ladendiebstählen erwischt, und die Schule hatte er nach der 10ten abgebrochen. Eine Ausbildung machte er nicht, sondern schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch, verbrachte 2 Jahre im Knast, weil er wiederholt bei Diebstählen erwischt wurde, und gegen Bewährungsauflagen verstoßen hatte. Mit 29 lernte er Ulla kennen, an der Supermarktkasse in Borbeck, sie heirateten und bekamen zwei Kinder. Durch Beziehungen bekam er dann einen Job als Straßenfeger, stellte sich nicht dumm an und wurde letztendlich Fahrer eines Müllwagens der EBE und verdiente nicht schlecht. Ein Jahr später wurde Angelo-Joey geboren, und als es ihnen finanziell richtig gut ging kam auch Celine-Kassandra zur Welt.
Ein kurzer Blick, ein leichtes Zögern, während die Scheibe der Bahnhofsapotheke den Schläger in Tobias Hand widerspiegelte, während er ausholte...doch nicht nur der Schläger wurde gespiegelt, sondern Tobias sah auch sich selbst im Schaufenster der Apotheke. Er sah sein Gesicht, voller Wut und mit dunklen Augen, er sah seinen Vater. Er erinnerte sich an dessen Gesichtsausdruck wenn er angetrunken mit seiner Mutter stritt, und oft die Hand hob, mit diesem wutverzerrten Gesicht. So wollte er nie sein, dass hatte er sich geschworen. Er wollte alles anders machen, den Kindern ein Vorbild sein, Ihnen echte Werte vermitteln, und seine Frau liebevoll und mit Respekt behandeln. Das hier passte nicht zu ihm. Das war er nicht, das war das verzweifelte Kind in ihm, es schrie, es verlangte nach Aufmerksamkeit, nach Hilfe. Im Schaufenster sah er das entsetzte Gesicht seiner Frau, die Kinder sahen ihn verängstigt an. "Papa, nicht" rief Angelo-Joey, während Celine-Kassandra keinen Ton mehr von sich gab. Tobias ließ den Baseballschläger fallen, und nahm seine Frau in den Arm, und auch die Kinder kamen und hielten sich an ihm fest. Das verzweifelte Kind in ihm hatte sich beruhigt, er wusste jetzt, dass er all das, was er als Kind so vermisst hatte, bei seiner eigenen Familie fand.
Scheiben klirrten. Mit lautem Getöse zerbarst die Scheibe der Apotheke, und unzählige Scherben glitzerten auf dem Gehweg im Schein der Taschenlampen. Ein großes Loch klaffte in der Front, und im Durchgang vor der Auslage mit den Desinfektionsmitteln lag ein großer Stein, der nun am Brunnen mit den halblangen Hosen fehlte. Ein paar Sekunden lang wurde es still, keine Alarmanlage ertönte, und alle standen bewegungslos und erschrocken vor der zerbrochenen Scheibe der Bahnhofsapotheke.
"Kommt sofort mit" forderte Tobias seine Frau und die Kinder auf. Er nahm Celine-Kassandra auf den Arm, und lief Richtung Bahnhof Borbeck. "Wir müssen hier weg" dachte er sich, "das kann nicht gut gehen". Sie liefen am Taxistand vorbei, doch kein Wagen weit und breit zu sehen. Also zerrte er die anderen zur Taxizentrale im Bahnhof. Doch die Tür war verschlossen. "Wegen der Ansteckungsgefahr durch Coronaviren, und zum Schutz unserer Fahrerinnen und Fahrer, sowie unseren Fahrgästen, ist diese Zentrale bis auf weiteres geschlossen" las er auf einem Schild an der Tür.
Immer mehr dunkle Gestalten drangen in die Apotheke ein. Es war wie ein gebrochener Damm, es gab kein Halten mehr. Man nahm, was man tragen konnte. Bilder die man sonst nur aus Filmen kannte. Sogar Einkaufswagen wurden benutzt, wo auch immer die herkamen.
Und wie eine Welle, die aus der gebrochenen Mauer des Damms herausschoss, verbreitete sich das Virus. Aber es hieß jetzt nicht mehr Corona, sondern Habgier, alle Sicherungen brannten durch.
5 Minuten nach der Scheibe der Bahnhofsapotheke geschah das gleiche ein paar Meter höher bei Rossmann. Dort schrillte nun auch die Sirene der Alarmanlage, und die Menschen schleppten alles raus was sie tragen konnten. Aber es waren nicht Hygieneartikel, sondern Parfüm und Kosmetika. Wollten die Leute gut riechen und aussehen, während sie coronaverseucht in Quarantäne lagen? Doch es ging garnicht mehr um das Virus. Wut und Verzweiflung hatte sich schon lange angestaut, die vielen Verbrechen der letzten Monate, schreckliche Attentate und viele unschuldige Opfer schürten eine Angst und Hilflosigkeit in den Menschen, die nun in purer Gewalt gipfelte. Viele gaben der Politik die Schuld, Flüchtlinge waren per se Verbrecher, und nicht wenige Gespräche in den Kneipen der Stadt erinnerten an dunkle frühere Zeiten.
Das Faß lief über, zu oft hatte man die Faust in der Tasche geballt, man nahm sich was einem zustand. Recht und Ordnung war in den Köpfen der Leute schon lange ausgehebelt. Erst letztens wurde ein Mann mitten in Borbeck City von einer Gruppe halbstarker übel zusammengeschlagen. "Ja wo leben wir denn?" hörte man vielerorts,"man is doch nirgends mehr sicher!" Die Menschen nahmen die Sache nun selbst in die Hand.
"Wo ist Shadow?" schrie Celine-Kassandra, die immer noch auf Tobias Arm war. In der Hektik und Panik der Situation hatte keiner auf den Hund geachtet. Angelo-Joey zögerte nicht, sofort sprang er auf, um seinen Liebling zu suchen. "Bleib hier Angelo, da is Chaos da draußen! Hier im Bahnhof sind wir sicher!" schrie Tobias ihm hinterher. Doch er rannte weiter. Als er aus der Bahnhofsvorhalle nach draußen trat, bot sich ihm ein krasser Anblick. Polizeisirenen heulten in der Ferne, und ihm kamen Menschen mit Armen voller Lebensmittel, und Kartons gefüllt mit Süßigkeiten oder anderem Zeugs. Einer trug einen Dönerspieß samt Fleisch vor sich her, was völlig bizarr wirkte.
Egal, Angelo-Joey rannte die Straße hoch, und musste absurderweise plötzlich an den Wendler denken.
An der Apotheke angekommen hielt er Ausschau nach Shadow, doch er war weit und breit nicht zu sehen. Nur eine Pfütze mit Erbrochenem, in dem zwei kleine halbverdaute Fische lagen. "Der is bestimmt nach Hause gelaufen " dachte er sich.
Sofort wollte er hoch Richtung Kaufland rennen, ohne die Umgebung wahr zu nehmen. Das Auto war viel zu schnell, und erfasste ihn frontal, er wurde auf die Windschutzscheibe geschleudert, und wie in Zeitlupe sah er hindurch, sah in erschrockene Gesichter, er sah einen neu verpackten Fernseher auf der Rückbank, und unzählige Stangen Zigaretten. "Total ungesund" dachte er sich, während sein Gesicht auf die Scheibe krachte. "Egal" ertönte es in seinem Kopf, während langsam alles schwarz wurde um ihn herum. Eine schöne Leichtigkeit machte sich in ihm breit, alles dumpf und warm, seine Augen registrierten noch einen Polizeiwagen vorbeifahren, und bevor er ohnmächtig wurde hörte er noch ein Bellen, oder war es sein Smartphone, welches neben ihm auf den Boden prallte und zersplitterte? Dann wurde es dunkel.
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Sehr dunkel und still.
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Fortsetzung folgt
Autor:Achim Feldhordt aus Essen-Borbeck |
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