Überdruss am Silberfluss, Teil 3: Hände hoch!

Hinter den bunten Büdchen lauert der Moloch von Buenos Aires.
  • Hinter den bunten Büdchen lauert der Moloch von Buenos Aires.
  • hochgeladen von Julian Brock

Das Leben in Südamerika ist kein Lama-Streichelzoo. Armut und Kriminalität gibt es zwar auch in Deutschland, doch für gewöhnlich hinter verschlossenen Türen und dem Auge verborgen. Hier ein gutes Beispiel dafür, was man als europäischer Tourist auf der Südhalbkugel besser nicht tut.

Die Reise-Omen hätten kaum ungünstiger ausfallen können. Für den Rückflug nach Deutschland hatte ich mir den 11. September ausgesucht, mit einer der beiden Airlines, deren Fluggäste exakt 12 Jahre zuvor zu den ersten Opfern von 9/11 geworden waren. „Man gönnt sich ja sonst nichts“, hatte ich mir gedacht und wohl nicht damit gerechnet, dass böse Omen flexibel sind: Sie erwischen dich nie dort, wo die sie erwartest. Und selbst wenn ich den Flug inklusive Zwischenstopps in Miami und Chicago überlebe, ist das Datum meiner Ankunft in Düsseldorf immerhin Freitag, der Dreizehnte. Doch damit nicht genug. Für meinen vorletzten Tag in Buenos Aires habe ich geplant, eine Adresse mit der Hausnummer 666 zu besuchen. Hier wohnt der Teufel, aber er trägt nicht Prada, sondern ein schwarzes Muskelshirt.

Doch das weiß ich am frühen Nachmittag noch nicht. Ich will zur Eloísa Cartonera, einem Verlag, der Bücher aus Pappkartons herstellt. Wer nämlich in Buenos Aires unterhalb der Armutsgrenze lebt, hat neben Betteln, Drogengeschäften und langen Fingern die Option des Altpapier-Suchens. Bei bestimmten Sammelstellen gibt es dafür pro Kilo einen Kleinstbetrag. Als vor 10 Jahren ein findiger Schriftsteller namens Washington Cucurto auf die Idee kam, aus den Pappkartons Buchrücken zu basteln und das Innenleben mit literarischem Druckwerk zu füllen, war das Konzept der cartonera geboren. Inzwischen sind die Selfmade-Verlage über den gesamten Globus verstreut und zeigen, dass man auch mit wenigen Mitteln ein Buch veröffentlichen kann. Dort will ich hin, zur ersten Cartonera. Wo im Jahr 2003 alles seinen Lauf nahm.

Die Irrfahrt ins Elendsviertel

„Du willst nach La Boca? Meine Güte...“

Ja, ich will nach La Boca, und zwar mit dem Bus. Der Fahrer ist nicht der einzige, der mir etwas verwundert hinterherlugt. Hinter den beiden Zauberwörtern verbirgt sich das alte, arme Hafenviertel von Buenos Aires, das mit seinen knallbunt angemalten Häusern täglich tausende Touristen ködert. Hier ist wirklich gar nichts mehr echt. Weder die Tangotänzer mit aufgeklebtem Schnurrbart, noch der Maradona-Imitator, der sich für 10 Pesos ablichten lässt. Warum also die Verwunderung des Busfahrers? Was ist an bunten Häusern und Touristenkitsch so schlimm? Nunja, das Alles ist nach 2 Minuten Fußmarsch vorbei und mündet in einem der schlimmsten Ghettos der Stadt. Kein Mensch, weder Backpacker noch Einheimischer, verlässt auch nur mit dem kleinen Zeh die sichere Touristenzone von La Boca.

Ich bin nicht zum ersten Mal in Lateinamerika. Ich kenne die Geschichten von blitzenden Messern und Pistolenschüssen und käme deshalb nie auf die Idee, mit Reisepass und Kreditkarte in der Hosentasche auf die Straße zu gehen. Doch die schlechten Omen machen ihren Job.
In Gedanken habe ich mir viele Überfall-Szenen zurechtgesponnen, aber dass es dabei so unspektakulär zugehen würde, wie an jenem Mittwochnachmittag, hätte ich nun wirklich nicht gedacht.

Ein Hirngespinst wird zur Realität

Mist. Falscher Häuserblock, ach hier geht’s lang...was will denn der Typ da hinten, was starrt der mich so an? Naja, einfach lässig dran vorbei...

„Das war's dann, Freundchen...“

Moment mal, warum hält der mir 'ne Knarre an den Bauch? Naja, sie ist auf jeden Fall ein ziemlich gutes Argument, auch wenn ein Messer natürlich stichhaltiger wäre...ich reiße also die Hände hoch und werde zum Selbstbedienungsladen, schalte sofort auf Autopilot. Handy, Notizblock, 300 argentinische Pesos wandeln in den Rucksack des zweiten Halbstarken, der sich soeben per Motorrad dazugesellt hat.

„Hau ab! HAU AB, ABER SCHNELL!“

Ich stolpere um die Ecke, höre das Knarren des Motors und blicke mit Tunnelaugen auf die junge Frau, die mit ihrem Kind auf der Bordsteinkante sitzt. Mein Spanisch ist plötzlich verschwunden, aber für die Frage nach der nächsten Polizeiwache reicht es noch. Sie begleitet mich, ihr kleines Mädchen trippelt neben uns her. Auf der Wache geht alles seinen Gang, es ist ein alltäglicher Fall, die Beamtin nimmt gähnend meine Unterschrift entgegen. Meine Sachen sehe ich sowieso nie wieder, aber wohin geht man schon nach einem Überfall, mit leeren Taschen? Zwei Polizisten fahren mich zurück zum Hostel, stellen mir die alles entscheidende Frage:

„Hast du in La Boca die Touristenzone verlassen?“

Ja, das habe ich, und ernte auf die Antwort nur ungläubiges Kopfschütteln. Ich halte die Anzeige gegen unbekannt in der Hand, sie ist voller Rechtschreibfehler. Jedenfalls bin ich froh, keinen regeren Kontakt mit argentinischen Ordnungshütern zu pflegen. Die Untersuchungszelle auf der Wache sah aus, als bewahre man dort Pestleichen auf, und der Geruch tat es dem äußeren Eindruck gleich.

Was war das denn bitte? Gott sprach zwar: „Lasset die Kinder zu mir kommen“, doch von Pistolen sprach er nicht. Die armen Schlucker hatten höchstens 18 Jahre auf dem Buckel, vielleicht bekommen sie für die umgerechnet 40 Euro ein bisschen Paco, eine Droge, gegen die Crystal Meth ein homöopathisches Heilmittel ist. Sie wollten mir nichts antun, sie hatten selbst mehr Angst als Verstand, und ich fliege morgen zurück in mein reiches Land, meine warme Studentenbude und erzähle bei einem kühlen Bier die Anekdote des dämlichen Deutschen, der durch die Ghettos von Buenos Aires spazierte. Naja, Reisen ist eben ein Geben und Nehmen.

Autor:

Julian Brock aus Essen-Borbeck

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