Überdruss am Silberfluss, Teil 2: Das Duisburg des Südens

Julian im Flugzeug von Rio de Janeiro nach Buenos Aires.
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Ich begrüße Buenos Aires mit einer Flucht. Nach dem landestypischen Frühstück mit geröstetem Baguette und einer trockenen Mandarine stürme ich durchs Hafenviertel, will zur grünen Lunge der Stadt. Buenos Aires ist Spanisch und bedeutet sinngemäß „schlechte Luft“. Santiago de Chile ist ebenfalls Spanisch und bedeutet „noch schlechtere Luft“, meine Lungen atmen also das geringere Übel ein. Na gut, ich übertreibe, so schlimm ist es dann doch wieder nicht, aber nach einer Woche Rio habe ich einfach keinen Bock mehr auf Großstadt. Ein 3-Stunden-Flug brachte mich vom Palmenparadies zu den Planquadraten, die vom Flugzeug aus immerhin ein bombastisches Lichtermeer abgeben. Natürlich nur, wenn man im Dunkeln ankommt, doch das tun die meisten Airlines. Quasi als Kundenservice, das Gänsehaut-Panorama gibt’s zum Landeanflug gratis dazu. Völlig überflüssig, dass die Emirates-Maschine von innen mit künstlichem Glitzer-Sternenhimmel verziert ist. Aber wer mit der Fluggesellschaft der Scheiche fliegt, kommt sich sowieso vor wie ein Ehrengast im Traumpalast.

Stadtflucht

Anders die Gebäude in San Telmo. Die haben ihre beste Zeit längst hinter sich, sie stauben im ältesten Stadtteil von Buenos Aires vor sich hin, während ihre schmalen Türen und Fenster den Charme des alten Europa versprühen. Bella Italia lässt grüßen, Schätzungen zufolge haben 25 Millionen Argentinier mindestens einen italienischen Vorfahren. Bedenkt man, dass sich in dem südamerikanischen Riesenstaat (9,5 mal so groß wie Deutschland) insgesamt 40 Millionen Menschen tummeln, ist das schon eine ordentliche Hausnummer.

Im Naturschutzgebiet am südlichen Stadtrand begegne ich hingegen keiner Argentinierseele, meine Füße stolpern über eine der wenigen Grünflächen der Metropole. Selbst die sind künstlich, selbst die sind geplant. Vor ein paar Jahrzehnten kippte man hier Unmengen an Schutt in den Río de la Plata, den Silberfluss mit Überdruss, und erklärte die dem Wasser abgeluchste Brachfläche kurzerhand zur Naturreserve.

Verkehrte Welt? Regenwetter in Südamerika

Auf dem Rückweg weiß ich nicht mehr, wo oben und unten ist. Und das hat nichts damit zu tun, dass ich mich auf der Südhalbkugel befinde. Monatelang kroch mir Buenos Aires wie ein halb vergessener Traum durch die Seele, meine Sehnsuchtsstadt schlechthin. Alte Häuser, junge Menschen, der Schöngeist in seinen vielen Gewändern: Heute trägt er noch Theater, morgen schon Poesie, während er gestern noch beim Tango schwitzte. „Paris des Südens“ wird die argentinische Hauptstadt genannt, doch heute erinnert sie mich eher an Duisburg. Mal im Ernst: Wofür bin ich zigtausend Kilometer geflogen, wenn es hier schifft wie aus Eimern? Bei 15 Grad? Pulloverträger, Regenschirme und schniefende Nasen, ich hatte vergessen, dass unterm Äquator Winter ist. In den nächsten Tagen wird sich die Metropole auf 35 Grad aufheizen, aber das kann ich jetzt noch nicht wissen. Mein Fernweh hat mich über's Ohr gehauen, hat mich dazu gebracht, die Copacabana gegen Kackwetter zu tauschen.

Endlich im Straßencafé, hier habe ich meine Ruhe. Bis ein Kellner kommt, kann schon mal ein Viertelstündchen vergehen. Argentinien zählt zu den glücklichen Ländern, die die Innenwände ihrer Kaffeehäuser mit Gemütlichkeit streichen. Sitzen, schlürfen, Zeitung lesen, irgendwann bezahlen und noch ein bisschen weitersitzen. Das ist urbaner Urlaub, der strömende Regen sorgt wenigstens dafür, dass ich ruhigen Gewissens hier rumsitzen und die Atmosphäre inhalieren kann.

Späte Urlaubsfreude

Neuer Tag, neues Glück. Die Sonne beamt mich aus dem Schlaf, 30 Grad schon morgens um 10, es lebe der Atlantik und das, was er mit dem Wetter macht. Den letzten Rest meiner Sonnencreme habe ich in Rio gelassen, aber hey, ein Sonnenbrand ist nach einer Lateinamerika-Reise immer noch vorzeigbarer als eine dicke Erkältung. Auch Fotos in kurzer Hose unter blauem Himmel machen sich besser als Bilder im November-Outfit vor tropfenden Palmen.
Duisburg adé – iBuenos Días Buenos Aires! Gestern noch im Café versackt, flaniere ich heute wie ein Weltmeister durch die Straßen, hier ein frisch gepresster Orangensaft, da eine Tüte gebrannte Mandeln, ganz plötzlich weiß ich wieder, wofür ich zigtausend Kilometer geflogen bin. Selbst die abgeranzten Jugendlichen, die mich für eine Handvoll Kleingeld anspringen, können mir die Laune nicht vermiesen. Auch nicht die Tatsache, dass ich am Geldautomaten eine gefühlte halbe Stunde anstehen muss, und erst recht nicht die Frechheit des Pizzabäckers am Abend, für einen halben Liter Bier knapp vier Euro zu verlangen. Ich bin im Urlaub, sonnenverbrüht und schweißgeduscht, und heute gönn ich's mir.

Autor:

Julian Brock aus Essen-Borbeck

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