Der etwas andere Adventskalender

Wo war denn bloß diese Tüte hin? Seit einer halben Stunde stellte Susanna Behrendt nun schon die Abstellkammer auf den Kopf, hatte das neue Wohnzimmer wieder halb verwüstet und drehte gerade den frisch eingeräumten Kleiderschrank auf links. Irgendwo im Umzugschaos musste es doch stecken, das Paket mit den beiden Adventskalendern für die Kinder, die sie vorsorglich bereits vor Wochen besorgt hatte! Richtig große, teure Kalender, diesmal mit kleinen Spielsachen drin anstatt Schokolade wie sonst, um Claudia und Julius den Umzug aus dem Haus in diese Wohnung ein wenig zu versüßen. Am vergangenen Wochenende hatten sie zum ersten Mal hier geschlafen, gestern hatten sie die Hausschlüssel an die neuen Besitzer übergeben, und morgen war der 1. Dezember. Noch 24 Tage bis Weihnachten. Früher immer eine Zeit der Überraschungen, der geflüsterten Geheimnisse und der Erwartung. Susanna lachte bitter. Seit zwei Jahren erwartete sie eigentlich gar nichts mehr. Nur dass ihre Kinder einigermaßen unbeschwert aufwachsen konnten, und dann würde man sehen. Und wo waren jetzt diese verflixten Adventskalender? Sie blickte auf die Uhr. Noch zwei Stunden, dann mussten die beiden aus der Schule zurückkommen. Einen Versuch war es wert. Sie schnappte sich die Autoschlüssel, warf rasch eine Jacke über und spurtete aus dem Haus.

Eine Dreiviertelstunde später war sie enttäuscht zurück. „Adventskalender?“ hatte man sie in den drei Supermärkten, die sie im Rekordtempo abgeklappert hatte, mitleidig gefragt. „Aber heute doch nicht mehr. Die sind alle seit Tagen ausverkauft!“ Nicht einmal mehr einen dieser billigen Schokoladenkalender hatte sie auftreiben können, nur noch einen Restposten „Edle Tropfen in Nuss“. Aber das war wohl kaum die richtige Idee für einen Zehnjährigen und eine Zwölfjährige. Die Autoschlüssel noch in der Hand, ließ Susanna sich entmutigt neben einen Kistenstapel sinken. Was nun? Da geriet der Stapel ins Wanken, der oberste Karton kippte herunter und ergoss seinen Inhalt über Susanna und den ungewischten Fußboden. Socken! Jede Menge einzelne Socken – große, kleine, bunte, einfarbige, manche verwaschen, andere fast neu. Susanna musste schlucken, als ihr wieder einfiel, was Johann damals gesagt hatte: „Guck die nur diese armen Dinger an. Bloß weil ihnen nun der Partner fehlt, können wir sie doch nicht einfach wegschmeißen! Wer weiß, vielleicht taucht er eines Tages wieder auf? Oder es fällt uns etwas ein, was wir damit machen können!“ So war der Single-Socken-Karton der Familie Behrendt entstanden und hatte sich im Laufe der Jahre immer mehr gefüllt. Manche Paare hatten wieder zusammengefunden, doch die meisten seiner Bewohner waren allein geblieben. So wie das winzige Erstlingssöckchen von Claudia, dessen Gegenstück schon vor fast zwölf Jahren der böse Sockenfresser in der Waschmaschine verschlungen hatte. Oder das löcherige Exemplar, in dem Julius sein erstes Fußballspiel gewonnen hatte. Die beiden fröhlichen, unterschiedlichen Ringelsocken, in denen Susanna als Pippi Langstrumpf beim Kindergartenkarneval den Elternpreis für das schönste Kostüm gewonnen hatte. Und das ausgetretene Ding, mit dem Johann vor zwei Jahren ins Krankenhaus gekommen war ....

Als die Kinder nach Hause kamen, balancierte Susanna auf einer Leiter im Wohnzimmer, wo sie in ausreichendem Sicherheitsabstand zum Adventskranz eine bunte Leine aus Geschenkband aufgespannt hatte. Daran baumelten 24 unterschiedliche Socken, mehr oder weniger prall gefüllt, dazwischen bunte Schleifen und an langen Bändern kleine Tannenzweige und die Pfefferkuchen aus dem vergangenen Jahr, die sich noch in der Weihnachtskiste gefunden hatten. Es sah richtig hübsch aus, denn Susanna hatte darauf verzichtet, die mitgenommenen Exemplare zu verwenden und aus dem kleinen Sockenberg diejenigen ausgesucht, die farblich einigermaßen zusammenpassten. So hatte es nur für einen Satz gereicht, doch in jeder Socke steckten nun zwei Überraschungen, für jedes Kind eine. Sollten sie sich eben einigen, hatte Susanne beschlossen und aus dem Umzugschaos alles zusammengeklaubt, war ihr verwendbar erschien: Murmeln, alte Fotos, kleine, längst vergessene Spielzeuge, ein paar Kosmetikpröbchen für Claudia und die Süßigkeiten, die sie eigentlich für den Nikolausstiefel vorgesehen hatte.
„Mama!“ schallte es jetzt zweistimmig von der Tür. „Das ist der tollste Adventskalender, den wir jemals hatten!“ Mit einem strahlenden Lächeln stieg Susanna von der Leiter und schob unauffällig eine große Plastiktüte mit dem Fuß unter das Sofa, bevor sie die beiden in ihre Arme zog. Weihnachten war auch im nächsten Jahr wieder, und Adventskalender wurden schließlich nicht schlecht...

Autor:

Carmen Möller-Sendler aus Ennepetal

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