Ein unermüdlicher Geist: Wilfried Buß aus Brackel sammelt historische "Poesiealben"
Es gibt Menschen, die sammeln Briefmarken. Oder gepresste Blüten. Oder Kakteen. Und es gibt Wilfried Buß. Sein Hobby ist ungleich exotischer: Wilfried Buß sammelt Stammbücher. Mittlerweile stapeln sich über 700 Werke aus fünf Jahrhunderten in seinen Schränken daheim in Brackel.
Und wenn hier von Stammbüchern die Rede sein soll, so sind hier nicht die Quellen der Ahnenforschung gemeint. „Spätestens seit 1753 ist unter dem Namen ‚Stammbuch‘ der spezielle Buchtyp des album amicorum zu verstehen“, räumt der pensionierte Pädagoge mit einem Missverständnis auf. Übersetzt bedeutet das so viel wie „das auf Weiß geschriebene Freundschaftsbuch“. Die Vorsilbe ‚Stamm‘ findet sich auch wieder bei den Stammesgenossen oder Stammesverwandtschaften. Damit sind sie die Vorläufer der heutigen Poesiealben.
Die Sammlung von Wilfried Buß bewegt sich auf hohem Niveau. Nichts mit „Lebe glücklich, lebe froh, wie der Mops im Haferstroh!“. Er besitzt vor allem Studenten-Stammbücher der geistigen Elite des 16. bis 19. Jahrhunderts, jener Bevölkerungsgruppe, in der diese Kultur am weitesten verbreitet gewesen ist. Und hier finden sich Widmungen zunächst in lateinischer oder griechischer Sprache, später dann auch auf Deutsch und Englisch.
Sprüche und Gedichte sind häufig hintersinnig, doppeldeutig, mit Metaphern gespickt. „Ein Mädchen übergiebt ihr freies Rittergut, dem Burschen ohne Zwang mit aller Servitut, daß sie darüber zwar directe maitre bleibe, doch ihm das utile Dominium verschreibe“, schreibt der Jura-Student Friedrich Meyer 1784 in Helmstedt in das Buch eines Kommilitonen. Oder wie man damals zu sagen pflegte: ‚Bruder‘ womit der Bruder im Geiste gemeint sein dürfte. In der Dichtkunst der Stammbücher ist das frivole und mit juristischen termini übersäte Werk thematisch eher ein Exot „denn um die Liebe ging es in den Stammbüchern eher selten“, erklärt der ehemalige Rektor der Hardensteinschule in Witten-Herbede.
Immer sind die Werke auch Spiegel ihrer Zeit. „Herr, in dieser letzten Stunde flehen wir aus Herzensgrunde, segne unsers Führers Tat, segne seine neue Saat“, schreibt ein evangelischer Pfarrer im Herbst 1942 nach den Bombenangriffen der Alliierten Kriegsgegner auf das Ruhrgebiet. In den 1990er-Jahren warnt eine Schreiberin: „Denk daran, wer sich nicht wehrt, kommt an den Herd.“
Doch Buß sammelt die Bücher nicht einfach. Er erforscht sie mit wissenschaftlichen Methoden. Für jeden der mittlerweile über 10 000 Einträgen sammelt er die Lebensdaten des Verfassers, überträgt die Verse wo nötig ins Deutsche, überträgt die Texte in lesbare Schrift, übersetzt veraltete Begriffe und Anspielungen in den modernen Sprachgebrauch.
Die Stammbuchforschung ist ihm mittlerweile zu einer Manie geworden. „Manchmal vergesse ich sogar mein Frühstück“, sagt er und deutet auf die unangetastete Müslischale und die volle Kaffeekanne, die in der Küche seiner Brackeler Wohnung auf der Küchenzeile warten. Damit hat er sich allerdings auch einen Namen gemacht.
Angefangen hat alles 1994 mit dem Stammbuch eines jungen Mädchens aus dem Jahr 1895 dem Geschenk einer Verwandten und einem Ausstellungsprojekt an seiner Schule. Heute steht er in Kontakt mit Universitäten und Museen, die seine Sammlung ausstellen, mit Doktoren und Professoren in Dortmund, Bochum, Jena oder Wien, Studenten kommen zu ihm, wenn sie eine Doktorarbeit in diesem Gebiet schreiben wollen.
Kein Wunder: „Ich habe Material für 80 Doktorarbeiten“, schätzt Wilfried Buß und untertreibt damit wahrscheinlich noch maßlos. Und jedes Jahr werden es mehr. Nicht nur die Universitätsdozenten schicken ihm immer wieder neue Fundstücke, auch Menschen, die über die Medien von ihm gehört haben, bringen immer wieder Dachbodenfunde, Überbleibsel aus Uromas Zeiten.
Der Historiker aus Leidenschaft, der in diesem Jahr seinen 77. Geburtstag feiert, bittet ausdrücklich darum. „Es sind bereits Millionen von Stammbüchern im Müll gelandet“, erzählt er und appelliert deshalb immer wieder an die Menschen: „Wenn Sie zuhause alte Stammbücher finden, bitte werfen Sie sie nicht weg, sondern schicken Sie sie an mich. Es ist wichtig, dass die Werke für die Forschung bewahrt werden.“
So blieben die Menschen in Erinnerung, „und auch die Menschen in 500 Jahren wissen noch, wer sie waren.“ Der Student Christopherus Bremerus schrieb es bereits 1618 als einleitende Worte zur Zweckbestimmung in sein Stammbuch: „Wan ich dan nehm diß buch vor mich, und darinn hin und wieder sich, so find ich offt manchen darinnen der mir sonsten nicht käm in sinnen [...]“.
Seine Stammbücher will Wilfried Buß eines Tages verschenken. An ein Museum, eine Universität oder ein Archiv. Bedingung ist, dass die Sammlung nicht zerschlagen wird und sie immer der Forschung zugänglich bleibt. Damit die Gedanken der Studenten, Mädchen und Pfarrer von einst auch in Zukunft nicht vergessen werden. (Jacqueline Schneider)
Autor:Ralf K. Braun aus Dortmund-Ost |
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