Ein Stück Kunststoff oder: Die Geburt einer Legende

Ich, im Einsatz

Am Anfang war ich ein einfaches Stück Plastik, flach, ungefähr 4 Millimeter dick und etwa einen halben Quadratmeter groß. Mit vielen Artgenossen lag ich fein säuberlich aufgestapelt in einem riesigen Regal. Eines Tages durchbrach ein surrendes Geräusch die Lagerhalle in der wir untergebracht waren. Ich wagte einen vorsichtigen Blick und sah einen Gabelstapler direkt auf uns zukommen. „Jungs,“ raunte ich den anderen zu, „ich glaube es geht los für uns.“ Und richtig: Der Stapler hob unseren Stapel an und fuhr mit uns in eine andere Halle. Gespannt wartete ich mit meinen Kumpels, was nun passieren würde. Nach einiger Zeit griffen Hände nach uns. Wir wurden auf einer Seite mit einer stark riechenden zähflüssigen Masse bestrichen. Dann spürte ich, wie ein anderes Gewebe auf mich gelegt wurde. 'Ist wohl ein Schaumstoff', dachte ich, 'wozu das wohl gut ist?' Dann kam wieder dieses klebrige Zeugs und eine weitere Lage. Diesmal ein Stoffgewebe mit Längsstreifen. Noch mal Klebe und noch mal Stoff, diesmal quergestreift. Bevor ich überlegen konnte, was mit mir passiert, wurde ich in ein Ding gelegt, das ich nicht kannte. Von oben kam etwas herunter gesaust und quetschte mich und meine neuen Begleiter mit ungeheurem Druck zusammen. „Leute“, sagte ich zu den anderen Lagen, „das ist ne Verbindung fürs Leben! Uns bringt keiner mehr auseinander.“ Es ist ein schönes Gefühl nicht mehr allein zu sein, auch wenn mir das nasse und klebrige Gefühl noch nicht sehr behagte. Aber meine neuen Freunde und ich waren sicher, trocken zu werden. Und richtig: Wir wurden für eine Nacht in einen wohlig warmen Raum gebracht und als der Morgen anbrach, war die Nässe gewichen und auch der Geruch war deutlich angenehmer.

Kurz nach dem wachwerden fanden wir uns in einem stählernen Ding wieder, das einen höllischen Lärm machte. 'Irgendeine Maschine', schoss es mir noch durch meine Fasern, als ich auch schon von einem kalten, metallischen Greifer weggerissen wurde. In einem irrsinnigen Tempo ging die Fahrt ab. Plötzlich war die rasante Fahrt auf dem Förderband zu Ende. Von oben wurde es wieder feucht. 'Das riecht nach Farbe,' dachte ich. Und richtig ich wurde bedruckt. 'Ein schönes gold-weißes Muster', fand ich. Als ich wieder trocken war, wurde ich in eine Maschine gelegt, eine so genannte Stanze mit rasiermesserscharfen Klingen. Das war zwar nicht gerade angenehm, aber da ich über keine Nerven verfüge, war es auch nicht schmerzhaft. Ich hatte noch immer keinerlei Vorstellung davon, was aus mir werden sollte. Eh ich mich versah, bestand ich aus lauter Einzelteilen. Ich zählte die Ecken der Teile und stellte fest, dass ich nun aus 19 Sechsecken, 12 Fünfecken und einem Sechseck mit einem Loch in der Mitte bestand. Während ich sauber verpackt wurde, rätselte ich weiter über meine Bestimmung. Dann wurde es dunkel und ich hörte Motorgeräusche. In einem LKW ging es auf die Reise. Nach einiger Zeit wurde ich ausgeladen und ich roch den salzigen Duft von Meerwasser. 'Ich mache eine Kreuzfahrt', jubelte ich. Eine Schiffsreise hatte ich mir schon immer gewünscht. Wo es wohl hingeht? Eine schier endlose Zeit verstrich und zwischendurch war es so stürmisch, dass ich von dem Geschaukel des Schiffes richtig seekrank wurde. Als die Reise zu Ende war, war es heiß, richtig heiß. Die Sonne brannte auf meine Verpackung und ich hörte eine fremde Sprache. „Das kenne ich“, meldete sich meine Schaumstoffschicht zu Wort, „hier war ich schon mal. Wenn mich nicht alles täuscht, sind wir in Marokko.“ Afrika – meine Güte, das ist weit weg von Deutschland!

Wieder wurde ich in einen LKW geladen. Am Bestimmungsort griff ein freundlich aussehender Mann nach mir, der von den anderen Murat gerufen wurde. Er packte mich aus und begann mich mit einer Nadel und einem Faden zu bearbeiten. Er war sehr geschickt und nach einiger Zeit stellte ich fest, dass aus einem Teil von mir eine Halbkugel geworden war. Auch aus meinem zweiten Teil wurde eine Halbkugel. Auf links gedreht wurde ich dann zu einer Kugel zusammen gefügt und auf eines meiner Sechsecke pinselte Murat ein Zeug, das ich schon kannte: Klebstoff. Er griff nach einem schlaffen Teil aus Gummi, das aussah, wie ein Ball, dem die Luft ausgegangen war. 'Moment mal, Ball?', freute ich mich durch alle Schichten meiner Einzelteile, „ich werde ein Ball, ein Fußball!“ Völlig aufgeregt wartete ich, bis Murat mich weiter verarbeitete.
Nachdem er die Gummiblase an mir festgeklebt hatte, stopfte er sie in mich hinein und stülpte mich auf diese Art auf rechts, so das mein schönes gold-weißes Muster zur Geltung kam. Dann nähte er mich komplett zu und verpackte mich mit vielen anderen Bällen in einen Karton. In diesem Karton ging es dann wieder auf die Reise nach Deutschland. Dort angekommen, wurde ich zum ersten Mal aufgepumpt. Was für ein heroisches Gefühl! Fertig! Ein wunderbarer und stolzer Fußball, der dazu bestimmt ist, vielen Kindern, Jugendlichen und auch Erwachsenen Freude zu machen. Mittlerweile habe ich die Endstation meiner Reise erreicht und fliege von flinken Füßen getreten über den Kunstrasenplatz bei der ÖSG Viktoria 08 Dortmund. Anfangs hatte ich ein wenig Angst, wenn ich so heftig geschossen wurde, dass ich weit vom Platz und über das Vereinsheim hinweg flog, Angst, dass mich irgendein Fremder mitnehmen könnte – weg von ÖSG, weg von zu Hause. Aber die Kinder passen wirklich gut auf mich auf und holen mich sofort wieder zurück. Es ist wirklich schön, hier Fußball zu sein!

Autor:

Volker Lenk aus Dortmund-City

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