Scheidemann (SPD) ruft die bürgerliche, Karl Liebknecht die "freie sozialistische Republik" aus
Novemberrevolution 1918 - Jeder gedenkt auf seine Weise
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) hat heute im Jahre 2018 -wie viele Historiker vor ihm- den 9. November als Schicksalstag der Deutschen bezeichnet. Der 9. November wird in Deutschland mit den Mauerfall 1989 oder der Reichspogromnacht 1938 in Verbindung gebracht. Nazis denken sicherlich zuerst an Hitlers stümperhaften, gescheiterten Putsch von 1923, bei dem vier bayrische Polizisten und ein unbeteiligter zu Tode kamen. Die wenigsten denken aber an die Novemberrevolution 1918. Zumindest war dies in all den vergangenen Jahren so.
Im 100. Gedenkjahr wird plötzlich auch von offizieller Seite an die Novemberrevolution erinnert. Jeder in seinem Interesse. Die konservativen, liberalen und sozialdemokratischen Kräfte erinnern auf die eine, die sozialistischen auf die andere Weise. Am 9. November rief Philipp Scheidemann (SPD) die bürgerliche Republik und sein ehemaliger Parteifreund Karl Liebknecht, der aufgrund seiner Ablehnung der SPD-Burgfriedenspolitik (u.a. Zustimmung zu den Kriegskrediten) aus der SPD-Fraktion ausgeschlossen wurde, die "freie, sozialistische Republik" aus. Die nachgestellten Fotos von Scheidemann an den Fenstern des Reichstages kennen wir aus den Geschichtsbüchern. Die Novemberrevolution ist der Teil der deutschen Geschichte, der leider bei vielen Menschen in Vergessenheit geraten oder gänzlich unbekannt ist. Dabei war diese Revolution ein herausragendes Ereignis deutscher Geschichte.
Die Frage war nun, ob der politischen auch die soziale Revolution (Umwälzung der Eigentumsverhältnisse) folgen würde. Sie blieb aus. Die SPD nahm eine verräterische Rolle ein, indem sie der Bewegung der Arbeiterinnen und Soldaten in den Rücken fiel und mit den alten Machthabern und korrupten Eliten zusammenarbeitete, um eine bürgerliche Demokratie samt Erhalt der alten Eigentums- und Produktionsverhältnisse durchzusetzen und diese alten Mächte dafür zu gewinnen. Letztlich dankte es die Reaktion den Sozialdemokraten nicht. Der Verrat der SPD sollte die Spaltung der Arbeiterbewegung für die nächsten 100 Jahre zementieren und war auch ein entscheidender Grund dafür, dass die beiden Arbeiterparteien keine gemeinsame Strategie gegen den Nationalsozialismus entwickeln konnten. Die SPD hatte eine bürgerliche Republik errichtet, die soziale Revolution verhindert und damit -sicherlich ungewollt- den Deutschnationalen und den Nazis den Weg geebnet.
Neben der linken SPD-Abspaltung USPD scherten Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht aus, gründeten den Spartakusbund (später KPD) und kämpften für die soziale Revolution. Während sie es auf den Bruch mit dem Kapitalismus anlegten, zielte die Taktik der SPD-Führung auf eine Stärkung der Konterrevolution ab und damit eine verbundene Niederschlagung der Massenbewegung. Diese Politik führte dann schließlich zur Niederlage der Revolution und ihren fortschrittlichen Ansätze für eine neue Gesellschaft, die nicht auf Klassengegensätze beruhte.
Revolutionärer Ursprung der parlamentarischen Demokratie in Deutschland
Die Zurückhaltung und Distanz, mit der die meisten Parteien der Bundesrepublik seit Jahren dieses historische Ereignis behandeln, spricht Bände. Obwohl sich die Bundesrepublik gern auf die Traditionen der Weimarer Republik als der ersten deutschen Demokratie beruft, gehört die Erinnerung an die Ereignisse, die diese Demokratie erst ermöglichten, nicht zu den Eckpunkten historischer Erinnerung und staatlichen Selbstverständnisses. Die revolutionären Matrosen, die explizit eine sozialistische Republik anstrebten (siehe Foto) werden euphemistisch "rote Matrosen" genannt, um sie posthum ihres revolutionären Anspruch zu berauben. Der revolutionäre Ursprung der parlamentarischen Demokratie in Deutschland bereitet, wie schon 1918 und 1919, offensichtlich manchem Politiker Probleme. Sicherlich müssten sich die Parteien auch Fragen nach der Verantwortung ihrer Vorgänger für den blutigen Kehraus und die politischen Morde stellen, die als Hypothek auf der Republik von Weimar lasteten. Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Kurt Eisner stehen beispielhaft für viele, die unerschrocken gegen Krieg und Monarchie mobilisierten und schon bald mit Billigung der SPD-Reichsregierung den rechten Mordkommandos preisgegeben wurden. Die SPD hat übrigens dieses Jahre ihre sogenannte "Historische Kommission" aus Kostengründen aufgelöst. Die SPD spart nun jährlich ganze 20.000 Euro.
Die revolutionäre Bewegung, deren linker Flügel nach dem Schrecken des durchlebten Krieges eine demokratisch-sozialistische Orientierung anstrebte, erkämpfte die parlamentarische Demokratie mit allgemeinem und gleichem Wahlrecht, das aktive und passive Wahlrecht für Frauen. Ihre machtvollen Aktionen verhalfen wichtigen sozialen Verbesserungen wie dem Achtstundentag, der Sozialgesetzgebung und den Betriebsräten zum Durchbruch. Es gibt folglich auch aus heutiger Sicht viele Gründe, sich der Ereignisse und Akteure von 1918/19 zu erinnern.
"Wir, die sogenannten einfachen Menschen sind es, die Geschichte schreiben"
Auf einer fröhlichen Gedenkveranstaltung zum 90. Jahrestag der Novemberrevolution sagte Dr. Manfred Sohn, der ehemalige Fraktionsvorsitzende der LINKEN im niedersächsischen Landtag, dass das Wichtigste für ihn „das Bewusstsein (ist), dass wir, die sogenannten einfachen Menschen, es sind, die Geschichte schreiben“. Wolfgang Gehrcke, ehemaliger Bundestagsabgeordneter der Partei DIE LINKE, sah die Ideale der Novemberrevolution als Auftrag auch für die heutige Politik: „Das heißt programmatisch: Nein zu Kriegen, Kampf um soziale Gerechtigkeit und Gleichheit, ein Sozialismus, für den Demokratie konstituierend ist. Kleiner geht die Aufgabe nicht.“
Ein äußerst umfangreiches Manuskript zur Novemberrevolution von Ulla Plener "Für bürgerliche und sozialistische Demokratie - Allgemeine, regionale und biographische Aspekte" finden Sie hier.
Eine sehr faktenreiche Internetseite zur Novemberrevolution von Karena Kalmbach aus Berlin finden Sie hier.
Ausgewogene Novemberrevolution Doku 3sat Kulturzeit extra (November 2008):
Autor:Carsten Klink aus Dortmund-Ost |
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