Dortmund Nord

Dies ist ein Auszug aus meinem Roman Elchmus, der ab sofort

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erworben werden kann.

„Ok“, sagt Elke ganz traurig, beißt aber die Zähne zusammen. Je eher Holger und Ralf gepackt haben, desto eher ist ABFLUG. Denkt sie im Holger-Jargon.

Kurze Zeit später setzt Elke Ralf an einer Bushaltestelle in der Pampa ab. In einer Gegend in der der Fuchs dem Hasen vor lauter Langeweile Gute Nacht sagt, statt ihn zu verspeisen.

Busfahren ohne Haltestellenansage macht ihn nervös, wenn er sich nicht auskennt. Und das ist hier und jetzt der Fall. Bislang hat er noch kein Schild, das Appelhülsen ankündigt, auf der Straße stehen sehen. Appelhülsen. Irgendein mieser Vorort vom spießigen Münster. Von dort fährt immerhin ein Zug direkt ins Ruhrgebiet.
In sein Dortmund, das nie wirklich seins war, denn eigentlich kam er ja aus Bochum. Bochum ich komm aus dir, singt Herbert in Gedanken und wie gerufen. Aber seine damalige Freundin wollte von einer Fernbeziehung Bochum–Dortmund nichts wissen und war eine waschechte Dortmunder-Zicke. Aus Dortmund kann sie nie weg, hatte sie gesagt.

Als Ralf dann bei ihr eingezogen war, glaubte sie dann doch erst an sich und dann auch noch an das Sprachenstudium in Saarbrücken. Und Ralf unterstützte sie auch, fand er doch auch, dass sie ganz gut Französisch konnte. Die Ex ist dann aber komplett nach Saarbrücken abgehauen. Dafür hing er im Dortmunder Norden fest. Verkehrsgünstig mit einer Wohnung, in die er alles reingesteckt hatte, was er hatte.

Natürlich hätte er nach Bochum zurückziehen können, aber das wäre ein Zeichen von Schwäche zeigen gewesen. Und hätte auch schon wieder gekostet. Daher pendelte er. Mit dem immer vollen und mindestens ein paar Minuten zu spätem NRW-Express. Wie viele andere. Leute, die er nicht kannte, standen jeden Morgen mit ihm auf dem Gleis und dann im Zug. Sitzplätze konnte und kann man noch immer nicht im Regionalverkehr reservieren.

Er kannte den Schweißgeruch vieler, aber nicht die dazugehörigen Namen. Auch nach drei Jahren noch nicht. Auch nicht die Namen der Dortmunder Ausgehstätten. Dank Holger. Holger, der in Bochum wohnte und daher nur dort neue Kneipen auftat. Wie seine Ex mochte er die zehn Minuten lange Zugfahrt überhaupt nicht.

Der Zug hatte Appelhülsen bereits vor einer guten Stunden verlassen und kam nun langsam in Gegenden, die er kannte. Schließlich empfängt ihn das U (auf dem Dortmunder U) mit Würde. Das markante Industriedenkmal hat wirklich Weltstadtcharakter, zumindest aus dieser Perspektive, findet er.

Das U, das ehemals Gär- und Lagerhaus der Dortmunder Union-Brauerei war und nun kreatives Kunstzentrum ist. Die Dortmunder Uhlandstrasse hat sich nicht verändert. Nordstadt. Buden, Trinkhallen und Döner. Türken, die vor ihren Mietshäusern auf der Straße sitzen, als seien es ihre privaten Gärten. Die Wäsche hängt auf der Straße zum Trocknen, wird aber von den meist dicken Mamas mit Kopftuch streng bewacht.

Graue Häuser mit Rissen in den Wänden. Einige rot oder gelb aufgehübscht, aber trotzdem am Bröckeln. Liegt an den Bergbauschäden hier. Lebensmittelläden, die Ötzentürk heißen und immer geöffnet haben. Deutsche Ladenöffnungszeiten gelten in diesem Viertel nicht.

Läden, die „Frisches Fisch“ verkaufen und die die Schilder (auch in XXL) dafür auf dem Borsigplatz vom Landsmann anfertigen lassen haben. Man hält hier halt zusammen und integriert sich nicht. Die Sparkasse hat geschlossen, weil sie zu oft überfallen wurde. Selbst der EC-Kartenautomat ist weg. Angeblich aber nicht weggesprengt. Die Läden verkaufen fast alle Döner und um die Ecke gibt es noch mehr Döner. Döner macht schöner. Aber nur die Deutschen. Die Türken selber essen ihn eigentlich gar nicht.

Hier ist Dortmund echt am Schönsten. Im Fredenbaumpark haben die Türken schon seit immer ihre eigene Wiese. Der Kanal ist direkt dahinter. Die Asis gehen nicht in den Park. Die Türken bleiben auf ihren Wiesen. Hier ist der schönste Biergarten der Stadt, und hier ist es am Ruhigsten. Auf der Münsterstraße kriegst du Essen aus aller Herren Länder. Für ´nen Appel und ´n Ei. Selbst der Wochenmarkt ist billiger als billig. Fertig gegrillte Tiere, äh, Hähnchen für einen Euro fuffzig! Gemüse aus dem Schrebergarten um die Ecke, garantiert PVB verseucht. Designerklamotten von Dolce und Gabbana, die eigentlich von KIK sind, aber das teure Label tragen.

Aber das alles hat ihn nie gestört. Fiel die Furz-D&G-Unterhose nach der Maschinenwäsche zusammen, kaufte er sich halt eine neue, für einen weiteren Euro. Schmuck für die Perlen gab und gibt es am Nordmarkt, ohne dass man beim Kaufen Angst haben musste. Zumindest nicht an Markttagen. Da passen die Bullen ein wenig besser auf.

Die Bulgaren, die in Schlangen auf der Mallinckrodtstraße stehen, wissen nicht ganz, wo es langgeht. Nicht nur in Dortmund. Sondern mit ihrem Leben. Aber klar ist, dass in Deutschland für sie die Sonne aufgegangen ist. Werden sie abgeschoben, kommen sie wieder. Mit noch mehr Kindern im Gepäck und neuem Begrüßungsgeld in der Tasche. Die ganze Stimmung der Nordstadt kippt so gerade. Versteckt sich hinter der Wolke, die gerade über dem deutschen Bäckerladen auftaucht. Die Sesamringe beim Türken sind wirklich gut. Kriegt man auch zwei für einen Euro, auch mit ohne Kopftuch.

Echt Zeit hier abzuhauen. Rekordarbeitslosigkeit, Kinder, die Kinder von anderen Kindern kriegen, Hartz 4 samt Hartz 4-Unterricht in der Schule. Lehrer versuchen etwas beizubringen. Kann man Formulare ausfüllen, schafft das Erleichterung. Hartz-4-Unterricht vermittelt dieses Wissen! Die ganzen Neuerungen diesbezüglich hören ja nicht auf. Die Anti-Baby-Pille gibt es jetzt bald auch auf Hartz-4-Rezept. Die Zahl der Geburten wird dann aber nicht sinken. Im Gegenteil! Denn die Bulgaren sind nicht krankenversichert und die Pille gibt es nur auf Rezept. Aber das Rezept bringt Kohle und kein Kindergeld. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das alle gescheckt haben. Und hier haben die Leute noch Zeit.

Seine Wohnung steht noch. Sie ist weder abgebrannt noch hat sie jemand ausgeräumt. Das Radio spricht schon wieder von Lampedusa. Von Japan ist schon lange nicht mehr die Rede. Es folgt der Wetterbericht. Dank des Hochs Elke bleibt es heiß. Gott, ist er verschossen.

Sein Telefon aber tot. Wie verdammt viele andere hier hat er die Rechnung nicht bezahlt. Er wird jetzt schnell packen und einiges verkaufen. Unten verhökert ein neuer Gebrauchtladen alles aus 2. Hand. Abholen umsonst inklusive. Es würde ihn nicht wundern, wenn die die Wohnung dabei nach Wertvollem abchecken und dann später nochmal heimlich wiederkommen. Sollen sie. Pech für seinen Nachmieter, nicht mehr für ihn. „500 Euro“, sagt der Gutachter ein paar Minuten später. „Für alle Möbel, exklusive Fernseher“. „Alles klar“, freut sich Ralf. Die alte Möhre wollen selbst die Armen nicht mehr. Hauptsache Plasma und I-pad. Je älter die Kinder werden, desto normaler ist das alles für sie.

Für Ralf alles kein Thema mehr. Er wird bald weg sein und hat sich eine neue Chance im Leben gesucht. Er wartet nur noch auf St. Ives. Und auf das Meer und seinen neuen Job. Er hat sein Leben geändert, bevor er Hartz 4 wurde und wie tot lebte.

Autor:

Silke Brocks aus Dortmund-Nord

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