Die Erzählung von Trudi 4

Der Bach erzählt

"Ich komme aus der Tiefe der Erde. Meine Quelle liegt weit entfernt in einem Haselnusshain. Hier ist es schön kühl und ruhig, die Vögel singen von morgens bis abends, sie bauen ihre Nester und ziehen ihre Jungen groß, ach ist das eine Freude, wenn die jungen Vögel ihren ersten Ausflug machen. Sie müssen erst lernen wie man fliegt, so wie die kleinen Kinder das Laufen lernen.
Wenn die jungen Vögel das erste Mal aus dem Nest klettern, sind die Flügel für sie völlig neu und sie versuchten die ersten Schläge. Die kleinen Vögel hüpfen von Ast zu Ast und schlagen wie wild mit den Flügelchen.
Dann kommt der erste Flug. Es wirkt noch recht unbeholfen, wie sie ihre Runden drehten, doch mit der Zeit wurde es immer besser. In ihr Nest kehrten die Jungen nicht mehr zurück. Die Altvögel fütterten die Jungen jetzt außerhalbd des Nestes und zeigen ihnen, wie man selber Insekten fängt und welche Körner fressbar sind. Bald waren die Vogelkinder flügge und konnten sich selber versorgen. Im Wäldchen steht auch eine dicke, alte Eiche. Viele Tiere benutzten ihre Zweige, ihre Wurzeln und ihren Stamm als Wohnung. Verlassene Wohnungen standen nicht lange leer. So wurden, die vom Sprecht gezimmerten Höhlen gerne von Meisen und Fledermäusen besetzt.

Im letzten Frühjahr hatten sich zwei Eichhörnchen in der Spechthöhle eingerichtet. Sie sammelten weiche Gräser und polsterten somit die Holzmulde kuschelig aus. Bald hatten die Beiden drei kleine, putzmuntere Eichkätzchen zu versorgen. In den ersten Tagen kam die Mutter nicht aus ihrer Höhle heraus und der Vater hielt in der Nähe die Augen auf, damit kein Feind die junge Familie angreifen konnte.
Einige Wochen später steckten die Kleinen vorsichtig ihre Näschen über den Höhlenrand. Der Mutigste untersuchte als Erster die Äste vor dem Höhleneingang. Der kleine Eichkater war noch recht wackelig auf den Pfoten und sein buschiger Schwanz war ihm noch keine große Hilfe, aber mit der Zeit lernten die Jungen ihren Schwanz als Steuer einzusetzen. Sie sprangen ziemlich schnell von Ast zu Ast und benutzten ihn wie ein Ruder. Auf diese Weise gelangten sie in alle Bereiche der Bäume. Die alten Eichhörnchen hocken immer, wenn die Kleinen ihre Turnstunde hatten, auf dem höchsten Ast und hielten nach Feinden Ausschau. Als die schwarz weiße, räuberische Elster ihrem Baum zu nahe kam, keckerten sie laut als Warnung für ihre Jungen. Die verstanden den Ruf und sausten pfeilschnell in die Höhle zurück. Sie lernen viel von den Eltern, unter anderem auch, welches Futter für den Wintervorrat geeignet war und wie man die Vorräte richtig versteckt.
Dieses ist ein Problem bei den Eichhörnchen, denn im Winter, wenn der Schnee den Boden bedeckt sieht fasst alles gleich aus, darum legen sie viele Reserven an um in der kalten Jahreszeit nicht zu verhungern. Immer, wenn sie aus dem Winterschlaf erwachen suchen sie eine ihrer Vorratslager auf und stillen ihren bohrenden Hunger. Doch sie legen immer mehr an als sie brauchen. Aus inigen der vergessen Nüssen und Bucheckern sprießen nach einiger Zeit neue Sträucher und Bäume hervor. Diese dienen dann den anderen Tieren als Futter und Zufluchtsstätte. So sorgen die vergesslichen Eichhörnchen dafür, dass immer junge Bäume im Wald nachwachsen."
Jetzt wollte der Bach wissen ob Trudi schon einmal im Wald gewesen ist, und die lustigen Eichkätzchen gesehen hatte. Doch Trudi verneinte und der Bach erzählte weiter. "Ich kenne auch Geschichten über die anderen Bewohner des Haselhains. Einige haben unter den alten Weiden, die an meinem Ufer stehen, ihre Wohnung gegraben haben. Ihre Gänge gehen tief in den trockenen Waldboden und enden in breiten, mit trockenem Gras und ausgerupften Haaren ausgepolsterten Schlafhöhlen. Natürlich hat jede Wohnung auch einen Notausgang. „Sag mal Trudi, weist Du welches Tier hier wohnt?" Trudi überlegte und dachte an den Hasen, der ihr vor die Füße gesprungen war. "Falsch", sagte
der Bach, "die Hasen bauen keine Höhlen sondern nur kleine Mulden, sie werden Sassen genannt. Die Bewohner der Tunnel sind die Kaninchen. Sie sitzen oft an meinem Ufer und naschen von dem saftigen Löwenzahn." Trudi war ganz aufgeregt und dachte gleich an den großen Löwen, den sie beim Zirkusbesuch gesehen hatte. Sie wunderte sich, dass die Kaninchen die Löwenzähne essen. Aber der Bach lachte und erklärte:" Der Löwenzahn, den die
Kaninchen fressen, ist ein Wildkraut, das auf allen Wiesen und an den Wegrändern zu finden ist, schau dich einmal um, auch hier wächst der Löwenzahn, seine Blüten leuchten erst in kräftigem gelb und werden dann zu weißen Wattebällchen, Du kennst sie als Pusteblumen. An den kleinen Fallschirmchen, die du beim Blasen in die Luft beförderst, hängen die Samenkörner des Löwenzahns. Auch der Wind spielt gerne mit den weißen
Schirmchen und sorgt so für die Verbreitung und Neusaat des Löwenzahns."

Trudi schaute sich um und sah die gelben Blüten, die von den grasenden Kühen abgezupft wurden. Sie pflückte sich eine der weißen Pusteblumen, holte tief Atem und blies die Samen durch die Luft. "Bin ich jetzt eine Seefrau", fragte sie den Bach. Er antwortete: " Nicht eine See-Frau, sonder ein Mädchen, welches Löwenzahn gesät hat." Trudi bat den Bach:" Bitte erzähle doch weiter, ich möchte zu gerne mehr von den Kaninchen hören." Der Bach fuhr mit seiner Geschichte fort:" Also, wie schon gesagt, sitzen die Kaninchen gerne an meinen Ufer und futtern den Löwenzahn, dabei schieben sie mit ihren Zähnen die Blätter von rechts nach links und von links nach rechts, es sieht putzig aus wenn die Blüten an den langen Stielen hin und her wackeln bis sie endlich, nach kurzer Zeit, ganz im Mäulchen verschwunden sind. Zwei- bis dreimal im Jahr bekommen die Kaninchen Junge, dann wird es im Wald unter den alten Weiden immer ein bisschen eng. Doch die Kleinen werden schnell erwachsen und gehen ihrer Wege. Gerne würde ich hier, im Haselnusshain bleiben, aber es geht nicht, es zwingt mich immer weiter, immer weiter über Moos und Farn, über Stock und Stein.

Autor:

Gertrud Gottschalk aus Datteln

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