Latein oder Französisch

Latein oder Französisch

Endlich war es an der Zeit, die zweite Fremdsprache zu wählen. Nach Englisch gab es zwei Möglichkeiten: Latein oder Französisch! - Mit Latein hatte er nichts zu tun. Also wählte er Französisch, um sich in der heutigen Welt verständigen zu können. Die Propaganda zum Vorteil des Lateins war schon immer da. Das Gymnasium bildete Ärzte, Pfaffen und Juristen aus. – Was wären die ohne ihr unverständliches Latein?
Er hielt schon sein frisch gedrucktes Lateinbuch in den Händen, da kam die „Frohe Botschaft“. – Die Schule hatte es möglich gemacht, trotz der wenigen Bewerber, einen Französischkurs einzurichten. Freudig tauschte er das Lateinbuch um und lernte eifrig jahrelang die neue Sprache. Auch mit den Zensuren klappte es gut. So fiel ziemlich schnell die Entscheidung, dieses Fach auch im Abitur zu nehmen.
Zu Beginn der Oberstufe bekam der Kurs eine kleine, niedliche Französin mit putzigem Dialekt als Dozentin. Da die Dame schon rein körperlich halb so groß war wie die meisten Schüler, freuten sich alle, den verknöcherten alten Lehrer endlich los zu werden. Dieser Mann gehörte nicht gerade zu den beliebtesten Zeitgenossen. Dies lag nicht daran, dass seine Hose immer zwei Nummern größer war als sein Hintern, sondern an seiner Pingeligkeit. So gab es einen Schüler, der schon einmal einen Hut mit riesiger Krempe in der Schule tragen wollte, um klar zu machen, dass er später Kunst studieren wollte. Darüber hatte sich der Pädagoge so aufgeregt, dass eine Schulkonferenz einberufen werden musste. Allerdings hat es nicht zu einem Verbot für das Tragen von Kopfbedeckungen geführt. Vielmehr ging der Schuss nach hinten los, weil immer mehr Schüler alle alten Hüte der Väter und anderer Vorfahren aus der Mottenkiste holten und aus Solidarität zu dem werdenden Künstler in der Schule trugen.
Allerdings entpuppte sich die süße Französin als Drache. So brachte sie durch Anschreien eine Schülerin zum Weinen, nur weil die Probleme hatte, ein „u“ wie ein „ü“ auszusprechen. Umgekehrt war das aber völlig in Ordnung. Die Lehrerin konnte zum Beispiel den Namen Ulrich nicht aussprechen. Dabei kamen dann so Sätze heraus wie folgender: „Ülrisch“ würden Sie bitte eben diesen Satz eben noch einemal eben lesen eben?“
Diese ständige Wiederholung des Wortes „eben“ ging zwar auf die Nerven, war aber nicht das Schlimmste. Der Notendurchschnitt sank allgemein in Richtung 5 oder 6, und die Hausaufgaben waren auch immer gesalzen. Meist blieb dann zuhause für andere Studien oder Privates kaum noch Zeit. So schaffte es die Dame, innerhalb des ersten Jahres, die Teilnehmerzahl des Kurses auf sieben Schüler zu reduzieren. Entweder gaben die Leute auf und wählten den Kurs ab, oder mussten wegen dieser Frau ein Jahr wiederholen. Das demotivierte die übrig gebliebenen derart, dass sie offen rebellierten. Es schien wieder so zu sein wie am Anfang. Wer schon so unverschämt war, das gelobte Latein zu umgehen, der sollte schon sehen, was er davon hatte. Alle glaubten an eine Intrige der Schulleitung.
So kam es nach lauten Wortgefechten zwischen den Schülern und der Lehrperson zur entscheidenden finalen Schlacht: einer Klausur! – Jeder schrieb dort entweder völligen Unsinn oder ließ der Kritik an den Unterrichtsmethoden freien Lauf. Einer formulierte den dritten Teil, eine Übersetzung vom Deutschen ins Französische in englischer Sprache, um der Pedantin einmal klar zu machen, dass es vieles gab, wovon die Allwissende keine Ahnung hatte. Immerhin bekamen die Schüler ja alle 45 Minuten anderen Lehrstoff eingetrichtert, für den kaum Kapazitäten übrig waren, weil das Gehirn überlastet war. Wie sollte man mit Kopfschmerzen nach jeder Französischstunde den anderen Kinderquälern noch Folge leisten. So sank dann auch die Motivation und der Notendurchschnitt in den anderen Fächern.
Am Rückgabetermin der Klausuren stellte sich die „Lehrerin“ dann nur noch wütend vor die „Klasse“ und las die einzelnen Namen vor. Jeder hatte eine 5 oder 6. Die Arbeiten wurden aber nicht den Schülern ausgehändigt, sondern waren Thema einer Konferenz. In der nächsten Stunde kam dann der Direktor mit der Französin und dem Hutfreund herein und stellte die Schüler vor die Alternative: Sie oder Ihn? – Per Handzeichen gewann der Mann einstimmig.
Der fühlte sich von dieser einmaligen Liebesbekundung von Schülerseite so geschmeichelt, dass er zu allen überfreundlich war und alle mit menschlichem Umgangston auch wieder bessere Noten erreichten. Anders hätten die meisten ihr Abitur nicht geschafft. Der Kurs wurde trotz der kleinen Teilnehmerzahl bis zum Schluss weiter geführt. So haben wir heute einige nettere Lehrer mehr.

Ulrich Tigges

Autor:

Peter G. Schäfer aus Castrop-Rauxel

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