Ein Bild - Eine Geschichte
Ewige Jugend
„Ich will doch nur einmal reinschauen. Nur ganz kurz. Niemand wird es merken!“ Linette hatte schon die Hand am Deckel der kleinen Kiste, von der ein geheimnisvolles Leuchten ausging, als Josefine sie am Handgelenk packte. „Da kommt jemand, schnell hinter den Vorhang!“ Die Tür zu der kleinen Kammer öffnete sich und die Gräfin trat ein. Ohne auf die Füße zu achten, die unter dem Vorhang zu dem schmalen, hohen Fenster hervorlugten, ging sie zur Kiste und öffnete sie. Ihr Gesicht wurde in goldenes Licht getaucht. Linette schaute vorsichtig hinter den Vorhang hervor, hinter dem sie und Josefine kaum Platz fanden. Sie spürte Josefines aufgeregtes Atmen im Nacken, doch ihre Neugier war zu groß. Was tat die Gräfin nur mit dieser Kiste? Was war darin verborgen? Die Gräfin stand mit dem Rücken zu ihnen und verdeckte, was sie tat. Legte sie etwas in die Kiste oder nahm sie etwas heraus? Und woher kam das Leuchten? Linette trat einen halben Schritt hinter dem Vorhang hervor, um einen besseren Blick zu erhaschen. Josefine zupfte nervös an Linettes Kleid. Dieses Zimmer war verboten, niemand außer der Gräfin durfte es betreten. Linette ignorierte Josefine und beugte sich weiter vor. Die Gräfin stand einfach nur vor der Kiste und starrte hinein. Was sie wohl sah? Linette platzte beinahe vor Neugier. Die Gräfin umgab ein großes Geheimnis. Obwohl sie schon sehr alt sein musste (Linettes Mutter hatte ihr schon gedient.), sah sie doch keinen Tag älter als zwanzig Jahre aus. Das musste mit dieser Kiste zusammenhängen, da war Linette sich sicher. Die Gräfin klappte den Deckel zu und Josefine zog Linette mit einem Ruck hinter den Vorhang. Linette unterdrückte einen Schmerzensschrei, als sie mit dem Ellenbogen gegen das Mauerwerk stieß. Doch die Gräfin bemerkte nichts und verließ das Zimmer. Josefine stieß den angehaltenen Atem aus. „Das war knapp, jetzt lass uns schnell verschwinden.“ Doch Linette stand schon wieder vor der Kiste. „Linette, wir sollten gehen!“ Josefine stellte sich neben sie und nahm sie am Arm, doch Linette schüttelte sie ab und öffnete die Kiste. Goldenes Licht umfing die beiden jungen Frauen. Es strahlte immer heller und dann klappte die Kiste mit einem Knall zu. Von Linette und Josefine war nichts mehr zu sehen. In der Bibliothek sah die Gräfin von einem Buch auf und lächelte. Solange es neugierige Dienstmädchen gab, würde die Quelle ihrer Jugend nie versiegen.
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Autor:Sabine Kalkowski aus Bergkamen | |
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