Ein Bild - Eine Geschichte
Blütenzauber

Vorsichtig schaute Kilian um die Ecke. Der Garten war in goldenes Sonnenlicht getaucht, das die Farben der Blüten leuchten ließ. Ein paar Vögel zwitscherten und ihr Gesang wurde von dem Summen der Bienen begleitet, die emsig die Blumen umschwirrten, und dem sanften Plätschern des Springbrunnens. Kilian wagte es kaum zu atmen, aus Furcht die friedliche Atmosphäre zu stören. Ein lieblicher Duft drang in seine Nase und ließ sein Herz höherschlagen. Er lauschte angestrengt und dann hörte er es. Zu dem fröhlichen Gezwitscher der Vögel gesellte sich ein leiser, sphärischer Gesang, dessen Töne hinter seiner Stirn vibrierten. So überirdisch schön, dass ihm Tränen über die Wangen liefen, als sein Herz vor Sehnsucht und Wehmut zu brechen drohte. Unter dem Oleander erschien die Gestalt einer Frau. Erst war sie so durchscheinend, dass man sie für Schattenspiel halten konnte. Nach und nach wurde sie weniger durchsichtig, bis Kilian sie deutlich sehen konnte. Sie war jung, kaum älter als er selbst und ihr Gesicht war von so herzergreifender Trauer gezeichnet, dass es ihm immer wieder vor Mitgefühl den Atem verschlug, wenn er es betrachtete. Sie sang ihr Lied und die Welt schien still zu stehen. Kilian unterdrückte ein Schluchzen. Er fragte sie wieder, wer sie war, was ihr geschehen war, warum sie so trauerte. Dann verstummte sie und sah sie ihn an. Kilian blieb die Luft weg. Den ganzen Sommer über hatte sie ihn nicht bemerkt. Er starrte sie an. Ihr Blick hielt ihn gefangen. Dann streckte sie ihm eine Hand entgegen. „Komm!“ Es war nur ein Flüstern, leise wie ein Windhauch, doch dröhnte es in Kilians Ohren. Ein Befehl, dem er sich nicht verweigern konnte. Langsam bewegten sich seine Füße und trugen ihn zum Oleanderbaum, ohne dass er sich wehren konnte. Die Frau lächelte und Kilians letztes Stück Verstand setzte aus.
„Kilian!“ Eine feste Hand packte ihn am Arm und riss ihn grob zurück. Kilian wandte sich um und sah verständnislos in Ellens Gesicht „Geh nicht mit ihr.“ Die Frau hielt Kilian immer noch lächelnd die Hand entgegen und er wehrte sich gegen Ellens Griff, versuchte sich ihr zu entwinden, doch je mehr er sich wehrte, desto fester hielt sie ihn. „Du darfst nicht mit ihr gehen!“
„Lass mich los, Ellen!“ Mit einer letzten Anstrengung schüttelte Kilian Ellens Griff ab und stieß sie zu Boden. Er reichte der Frau die Hand. Langsam begann seine Gestalt zu verblassen und so durchsichtig zu werden, wie die ihre.
„Nein!“ Ellen rappelte hoch, doch es war zu spät. Zusammen mit der Frau verschwand Kilian völlig. Der Oleander knackte und raschelte und wuchs in wenigen Augenblicken ein deutliches Stück. Neue Blätter und Blüten sprossen und Ellen wusste, dass sie Kilian nie wiedersehen würde. Er war jetzt Teil des Baumes.
www.sabine-kalkowski-schriftsteller.de

Autor:

Sabine Kalkowski aus Bergkamen

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