Ein Bild - Eine Geschichte
Wundermittel und ihre Tücken
Hastig stopfte Kaya einige Tiegel der Anti-Pickel-Creme in ihre Tasche. Ihre letzte Reserve hatte sie vor zwei Tagen verkauft. „Machst du gleich noch einen Schwung Neue?“ Sie umarmte ihre Tante Daria zum Abschied und sah in ihr müdes Gesicht. Sie war vergangene Woche krank gewesen und hatte nicht für Nachschub sorgen können. „Ich kann damit gerade die Vorbestellungen abdecken.“
Tante Daria seufzte und nickte dann. „Ich lege mich kurz hin, dann mache ich mich wieder an die Arbeit.“ Sie lächelte knapp. „Es ist ein Jammer, dass dein Bruder die Begabung geerbt hat und nicht du.“
Kaya zuckte mit den Schultern. „Ich habe dafür andere Talente. Ich hätte auch gar keine Zeit, den Kram herzustellen. Ich finde, wir sind ein gutes Team, du nicht?“
Ihre Tante lachte und gab ihr einen Klaps auf die Schulter. „Beeil dich, der Schulbus kommt gleich.“
Kaya nickte und schlüpfte aus dem Gewächshaus, dem Reich ihrer Tante. Vor einem Jahr hatten sie damit angefangen, besondere Cremes herzustellen und zu verkaufen. Daria war für die Herstellung zuständig und Kaya übernahm den Vertrieb. In der Schule hatte sie mehr als genug Kundschaft. Nach der Schule wollte sie studieren und war schon in den Studentenkneipen unterwegs, die Kunden von morgen akquirieren. Ihre Tante Daria hatte einige Ideen für die Sortimentserweiterung für das neue Klientel. Das Geschäft lief gut, fast zu gut. Ihre Tante kam mit der Herstellung kaum hinterher. Zu blöd, dass ihr Bruder nicht mit einsteigen wollte. Er nutzte seine Fähigkeiten lieber anderweitig. Anwalt wollte er werden. Alles andere war ihm zu popelig. Wenn er nur wüsste, was Kaya und ihre Tante so verdienten. Kaya brauchte sich keine Sorgen über die Finanzierung ihres Studiums zu machen. Ihr Bruder musste nebenbei kellnern, um über die Runden zu kommen.
In der ersten großen Pause huschte Kaya an ihren gewohnten Platz zwischen den Haselnussbüschen am Rand des Hofes neben der Raucherecke. Es war zwar nicht illegal, was sie tat, sie verkaufte schließlich nur Kosmetik, aber sie wollte auch keine Fragen provozieren.
Die Mädchen, welche die Anti-Pickel-Creme bestellt hatten, warteten schon.
Sie winkte gerade noch Marvin hinterher, der mit dem sexy Dreitagebart, den er sich dank ihrer Bartwuchscreme sprießen lassen konnte, richtig ansehnlich aussah, als ihr jemand von hinten auf die Schulter tippte. Sie drehte sich um. Anja hatte den Schal bis über die Nase hochgezogen und lüftete ihn nun kurz. Kaya erschrak. Anja hatte sich zwar rasiert, aber der dunkle Schatten auf den Wangen war nicht zu übersehen. Verdammt. Sie hatte auf eine Bartwuchscreme ein falsches Etikett geklebt. Man sollte nie etwas in Eile tun.
„Mach das weg! Ich kann so nicht unter Leute gehen. Ich krieg schon Ärger, weil ich heute die Schule schwänze.“ Anja zog den Schal wieder hoch.
„Äh.“ Kaya fing an zu schwitzen. Was sollte sie tun? Eine Verwechslung war nicht vorgesehen und ihre Tante hatte sie noch extra gewarnt, ja aufzupassen, weil das Bartwuchsmittel nur für Männer war, bei Frauen konnte es komische Sachen machen.
„Sag jetzt nicht, dass du kein Gegenmittel hast. Du musst es doch wegzaubern können oder so!“ Panik schlich sich in Anjas Stimme.
„Bleib ruhig!“, sagte Kaya mehr zu sich selbst als zu Anja. „Ich muss kurz telefonieren. Keine Sorge, das bekommen wir hin!“ Sie ging ein Stück, damit Anja sie nicht hörte, und holte ihr Smartphone raus. „Tante Daria, wir haben ein Problem! Ich habe die Cremes verwechselt und Anja hat jetzt einen Bart. Bitte sag mir, dass du ein Gegenmittel hast“, erzählte Kaya ohne Umschweife.
Am nächsten Morgen überreichte Kaya Anja einen kleinen Tiegel. Die schnupperte daran und verzog angewidert das Gesicht. „Es ist ein Prototyp. Die Creme ist noch in der Testphase.“
Anja runzelte die Stirn, gab sich dann einen Ruck und cremte sich einen Fleck auf der stoppeligen Wange ein. Es dauerte nur einige Sekunden und die ersten Haare rieselten, als Anja darüberstrich. Sie atmete erleichtert auf und cremte sich den Rest ein. Auch Kaya seufzte, das war noch einmal gutgegangen. Ob es für die Enthaarungscreme wohl auch Abnehmer gab? Haare im Gesicht waren ja attraktiv, aber an anderen Körperstellen nicht so sehr. Sie kratzte sich grübelnd die Nase, während Anja sich die letzten Haare aus dem Gesicht rieb. Die Haut war nun haarlos und sogar pickelfrei. Anja lachte froh und strich sich durch ihre Locken. Kaya, immer noch halb in Gedanken versunken, wurde von ihrem spitzen Schrei aufgeschreckt. Anja hielt eine dicke Strähne ihrer braunen Locken in der Hand und es blieb nicht dabei. So, wie die Haare aus dem Gesicht verschwunden waren, rieselten sie ihr nun vom Kopf.
„Oh nein, das darf doch nicht wahr sein! Was verkaufst du nur für ein Zeug?“
Kaya hielt Anja gerade so ab, sich die Bartwuchscreme auf den Kopf zu schmieren. „Lass das, nachher bekommst du einen Ganzkörperbart!“
Anja wickelte sich den Schal um den Kopf. „Und jetzt? Das ist nicht besser! Mach was!“
„Du kommst jetzt mit zu meiner Tante, die hat bestimmt eine Idee!“
Auf dem ganzen Weg zum Gewächshaus betete Kaya, dass ihre Tante wirklich helfen konnte. Sie mussten sich dringend Gegenmittel beschaffen, für den Fall, dass etwas schieflief.
Kaya schob Anja durch die Tür und weiter zu Tante Darias Küche. Es zischte darin und Dampf drang aus dem Lüftungsschlitz. Es roch nach einer Mischung aus verfaulten Eiern, Erdbeeren und Marzipan.
„Ich geh da nicht rein!“ Anja blieb mit verschränkten Armen stehen. Der Schal war ihr halb vom Kopf gerutscht und entblößte die kläglichen Reste ihrer vorher langen vollen Locken.
Kaya steckte den Kopf durch die Tür. „Tante Daria, wir haben noch ein Problem.“
Daria drehte sich um und zog den Mundschutz herunter. „Lass mich raten: Die Kopfhaare sind auch ausgefallen.“ Kaya nickte und Tante Daria stieß enttäuscht die Luft aus. „Das hatte ich befürchtet. Ich habe die Lösung dafür noch nicht gefunden, bin aber dicht dran.“ Sie verzog die Nase. „Glaube ich.“
Kaya schnaufte ungeduldig. „Was machen wir jetzt mit Anjas Glatze? Wachsen die Haare überhaupt nach?“
„Was? Das bleibt so?“ Anja schob Kaya zur Seite. „Das kann nicht so bleiben. Das geht nicht!“
Tante Daria schnappte Anja und setzte sie auf einen Stuhl neben den Arbeitstisch. Diese war blass um die Nase geworden. „Natürlich nicht. Ich habe eine Haarwuchscreme für Kopfhaar, aber sie hat noch Nebenwirkungen.“
Anja sah sie misstrauisch an. „Wächst mir dann eine zweite Nase oder sowas?“ Sie erhob sich. „Dann behalte ich lieber die Glatze und warte, bis die Haare von alleine nachwachsen.“ Sie blieb unschlüssig stehen. „Sie wachsen doch nach, oder?“
„Natürlich tun sie das.“ Tante Daria drückte sie energisch zurück auf den Stuhl. „Es juckt nur ein wenig, mehr passiert nicht. Versprochen.“ Sie tauchte einen Finger in einen Tiegel und sah Anja fragend an. Die nickte ergeben. Rasch cremte Tante Daria ihren Kopf ein und fasste dann nach ihren Händen.
Einen Moment saß Anja noch entspannt da, dann wurde sie unruhig. „Es juckt!“, beschwerte sie sich. Tante Daria nickte und packte die Hände fester. Ein erster Flaum zeigte sich auf Anjas Kopf.
Diese zuckte mittlerweile und versuchte, ihre Hände freizubekommen. „Das juckt total dolle!“
„Es ist gleich vorbei, nur noch ein paar Minuten“, versuchte Tante Daria sie zu beruhigen. Die Haare waren schon einige Zentimeter lang.
„Ah, das soll aufhören!“ Anja wand sich und jammerte, während Tante Daria ihre Hände mit aller Kraft festhielt, damit sie sich nicht kratzen konnte.
„Ich versuche gerade, die Wachstumsgeschwindigkeit zu reduzieren, dann müsste auch der Juckreiz nachlassen. Sie müssen ja nicht fünfzig Zentimeter in fünf Minuten wachsen. Wenn sie dies in einer Stunde tun, dürfte das immer noch akzeptabel sein, oder?“ Tante Daria musste ihre Stimme heben, weil Anjas Gejammer mittlerweile recht lautstark geworden war.
Kaya nickte fasziniert, während sie staunend zusah, wie sich die Haare Zentimeter um Zentimeter aus Anjas Kopf schoben. Nach einigen Minuten nahm die Geschwindigkeit ab und das Jucken ließ nach. Anja saß zusammengesunken und schnaufend auf dem Stuhl. Tante Daria fuhr ihr zufrieden durchs Haar. „Aber das Ergebnis kann sich schon sehen lassen.“ Sie klopfte Anja aufmunternd auf die Schulter. „Das hätten wir geschafft. Möchtest du jetzt vielleicht noch etwas Anti-Pickel-Creme? Ich habe gerade neue Tiegel abgefüllt.“
Anja sprang auf, schüttelte vehement ihren Kopf und schnappte sich ihre Tasche. „Muss weg“, murmelte sie und schob sich an Kaya vorbei. Kurz darauf hörten sie die Tür vom Gewächshaus zuschlagen.
„Mh“, machte Tante Daria. „Ich glaube, wir haben eine Kundin verloren.“
„Mh“, machte Kaya. „Sieht so aus. Am Krisenmanagement müssen wir noch arbeiten. Der Service läuft noch nicht rund.“
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Autor:Sabine Kalkowski aus Bergkamen | |
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