Ein Bild - Eine Geschichte
Urlaubsreise mit besonderem Zwischenstopp

David verfolgte gebannt den Lauf der Kugel auf dem Rouletterad. Das Kreuzfahrtschiff war auf dem Weg nach St. Lucia und sie würden noch einen Tag unterwegs sein. Er war nach dem Abendessen in das Bordcasino gegangen und genoss nun den Nervenkitzel beim Glücksspiel.
Das Schiff schwankte und beinahe schwappte der Wein aus seinem Glas. David trank es leer und stellte es einem vorbeigehenden Kellner auf das Tablett. Eigentlich war schönes Wetter angesagt, doch am späten Nachmittag war ein Sturm aufgezogen. Man hatte sie beruhigt, das Schiff sei dem gewachsen, kein Grund zur Sorge. Doch das Schiff schwankte stärker, als er es sorglos hinnehmen konnte. Die Chips auf dem Spielfeld verrutschten leicht, doch der Croupier tat, als sei nichts, und sammelte ungerührt die Chips von den Feldern ein. Neben David seufzte ein Mann, als seine Chips beim Croupier landeten.
„Das war es für heute für mich“, meinte er zu David, der gerade einige Chips wieder auf ein Feld legte. Er stand auf, schwankte und hielt sich an David fest, um nicht zu stürzen. „Verzeihung, dieser verdammte Sturm. Man kann sich kaum auf den Beinen halten.“ Er ließ ihn los und wankte zum Ausgang des Casinos. Der Sturm war schlimmer geworden. Die Chips auf den Spieltischen verrutschten so sehr, dass sie ihre Felder verließen und bunt durcheinander kullerten. Hinter ihm kippte ein Stuhl samt dem darauf Sitzenden um.
„Seht doch!“ Ein Mann stand aufgeregt an einem der Fenster und deutete hinaus.
David drängte sich mit den anderen Gästen zu den Fenstern und versuchte, ein Blick auf das Geschehen außerhalb des Schiffes zu erhaschen. Der Anblick war beängstigend. Das Meer brodelte. Wellen türmten sich meterhoch auf und brachen in sich zusammen. Blitze zuckten durch die pechschwarzen Wolken. So stellte sich David das Tor zur Hölle vor. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten und stützte sich an der Wand ab, während er weiter ungläubig aus dem Fenster starrte. Das konnte einfach nicht sein.
Langsam hob sich ein Turm aus dem schäumenden Wasser. Es folgten Dächer und Mauern. Stück für Stück hob sich eine ganze Stadt aus dem Meer und sie fuhren direkt darauf zu. Die Alarmsirene heulte kurz auf, dann knisterten die Lautsprecher und eine Stimme ertönte. „Achtung, wir leiten ein Ausweichmanöver ein.“
David sah sich nach etwas zum Festhalten um und lehnte sich dann dichter an die Wand und starrte weiter aus dem Fenster. Er hörte, wie die Mannschaft die Passagiere um ihn herum beruhigte. Das Schiff neigte sich immer mehr, hob und senkte sich. Stühle kippten um, Gläser klirrten auf den Boden, Menschen schrien. Langsam änderte sich die Position der Stadt, die sich immer noch aus dem Meer hob. Er atmete erleichtert auf, sie würden sie verfehlen.
Er konnte die einzelnen Steinblöcke in der äußeren Mauer erkennen, als sie daran vorbeiglitten. Blitze erhellten die Gebäude, Wasser rann das Mauerwerk hinab. Lebewesen waren nicht zu sehen, nur Stein.
Die Bewegungen des Schiffes beruhigten sich und David beschloss, in seine Kabine zu gehen. Die Aufregung war vorbei und das Casino musste erst aufgeräumt werden, bevor weitergespielt werden konnte. Vielleicht konnte er von seiner Kabine aus noch etwas beobachten.

Am nächsten Morgen stand David müde auf. Er hatte kaum geschlafen. Der Sturm hatte erst mitten in der Nacht nachgelassen. Als er aus dem Fenster schaute, lag das Meer ruhig vor ihm da, als sei nichts gewesen. Er hatte gestern nichts mehr gesehen, da sein Fenster zur falschen Seite rausging. Er schaltete den Fernseher ein.
„Knapp fünfhundert Kilometer vor der Insel St. Lucia ist in der Nacht eine Stadt aus dem Meer aufgetaucht. Es ist noch unklar, woher sie kommt und wer sie gebaut hat. Auch wieso sie vom Meer bedeckt war und wie sie wieder an die Oberfläche steigen konnte, wird noch untersucht. Im Moment existieren verschiedene Theorien, von denen jedoch keine bewiesen ist.“ Die Journalistin wandte sich nun einem Mann mit wirrem weißen Haar zu, der auf ihre Frage hin etwas von Außerirdischen faselte, und dass die Stadt ihr Raumschiff sei. Und dass er von der Theorie, dass eine hochentwickelte Kultur seit Jahrhunderten unter ihnen lebte, nichts hielt.
David schaltete den Fernseher aus. Er hatte das Ganze nicht geträumt. Beim Anblick der nun ruhigen See hatte er das tatsächlich geglaubt.
Auf dem Weg ins Restaurant überlegte er es sich anders und stieg zum ersten Sonnendeck auf. Frühstücken konnte er später. An der Reling standen die Passagiere dicht an dicht. Ein Hubschrauber flog über sie hinweg. Er folgte ihm mit seinem Blick. Nicht weit von ihnen entfernt leuchtete die Stadt im Sonnenlicht, das sich auf den weißen Mauern spiegelte. Mehrere Hubschrauber schwebten direkt darüber.
Ein Mann neben ihm hatte eine Kamera dabei und beobachtete das Spektakel durch das ausgefahrene Objektiv. „Da seilen sich welche ab!“, kommentierte er das, was er sah. „Da ist niemand, keine andere Bewegung.“ Er senkte die Kamera und wandte sich zu David. „Bestimmt eine Erdverschiebung oder so etwas. Das sind nur Ruinen.“
David schüttelte nachdenklich den Kopf. „Müssten die dann nicht von Algen und Muscheln bewachsen sein? Als wir dran vorbei gefahren sind, sah das nicht wie Ruinen aus.“
Der Mann zuckte mit den Schultern und hob rasch die Kamera, als sie einen lauten Knall hörten. Er kam von der Stadt. Einer der Hubschrauber war abgestürzt, sie sahen Feuer und Rauch. Die Passagiere riefen aufgeregt durcheinander, als ein Lichtblitz einen weiteren Hubschrauber traf. Trudelnd stürzte er zwischen die Häuser. Die Menschen auf dem Schiff gerieten in Bewegung, als ein weiterer Lichtblitz von der Stadt abgefeuert wurde. Er kam direkt auf sie zu.
www.sabine-kalkowski-schriftsteller.de

Autor:

Sabine Kalkowski aus Bergkamen

Webseite von Sabine Kalkowski
Sabine Kalkowski auf Facebook
following

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

7 folgen diesem Profil

Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.