Ein Bild - Eine Geschichte
Jahrhundertfund

„Das ist unglaublich, Valentin. Schau dir das an. Das ist ein Jahrhundertfund!“
Professor Valentin Viborg eilte zu seinem Assistenten Nathan Meinolf. Nur wenig Licht drang vom schmalen Eingang in die verwinkelte Höhle.
Sie hatten von ihr in den umliegenden Dörfern gehört. Ganz in der Nähe waren Skelettreste von Urmenschen gefunden worden und er vermutete, dass sie noch mehr in der Gegend finden würden. Wochenlang hatten sie sich in den Dörfern umgehört, wo es weitere Höhlen geben könnte. Diese hier war immer wieder erwähnt worden, aber wenn sie genauer nachgefragt hatten, waren die Menschen verstummt. Sie hatten Angst vor diesem Ort. Sie hatten nur noch soviel in Erfahrung bringen können, dass hier mehrere Personen verschwunden waren. Diese Höhle galt als verflucht.
Die Bewohner der Gegend machten einen weiten Bogen um sie. Sie hatten die Archäologen gewarnt, die Höhle zu betreten, doch Valentin machte sich nichts aus Aberglauben. Für ihn zählten Fakten und die hatte er nun vor sich. Nathan hatte mehrere Skelette entdeckt. Sie waren vollständig, wie Valentin es auf den ersten Blick feststellen konnte, und in gutem Zustand. So viele gut erhaltene Skelette von Urmenschen waren noch nie gefunden worden. Sie lagen in Embryohaltung Seite an Seite in einer Reihe. Es schienen nicht nur Knochen von Erwachsenen zu sein, sondern es waren auch Überresten von Kindern und Jugendlichen darunter.
Nathan betrachtete sie ehrfürchtig im Schein seiner Taschenlampe. „Eine ganze Familie. Was ist wohl geschehen? Haben sie sich schlafen gelegt und sind nicht wieder aufgewacht? Was hat sie getötet?“ Er hockte sich davor und tastete den Untergrund zwischen den Knochen ab. „Mh. Ich fühle nur Erde und darunter Fels. Falls sie auf einem Lager gelegen haben, ist es verrottet. Aber das hier könnte zu einem Pelz gehört haben.“ Er hielt ein Stück verkrustetes, verhärtetes Leder in die Höhe, an dem einige Haare hingen.
Valentin hockte sich neben ihn und nahm es ihm ab. „Möglich. Hier in der Höhle ist die Luft konstant kühl und recht trocken. Es könnte sich erhalten haben.“ Er stand auf und sah sich aufgeregt um. Am liebsten würde er sofort anfangen, die Knochen zu bergen, doch sie mussten geordnet vorgehen. Sie mussten alles genaustens dokumentieren. „Wir machen Schluss für heute. Morgen kommen wir mit der Ausrüstung zurück und vermessen und fotografieren alles.“
Nathan zog ein enttäuschtes Gesicht, nickte dann aber. „Was ist damit?“ Er zeigte auf das Stück Leder in Valentins Hand.
„Das nehmen wir mit und untersuchen es.“ Valentin hielt es Nathan hin, der es eintütete.
Nach einem letzten Blick auf die Knochen machte Valentin die ersten Schritte in Richtung Höhleneingang. Es raschelte hinter ihm. Er blieb stehen und drehte sich um. Auch Nathan war stehen geblieben. „Was war das?“
Valentin leuchtete mit der Taschenlampe zurück in die Höhle.
„Wo sind die Skelette?“ Nathans Atemzüge neben ihm waren hektisch und unnatürlich laut.
Es knackte direkt neben ihm und als Valentin in diese Richtung leuchtete, sah er Knochenhände, die nach ihm griffen. Er wich zurück, stieß gegen Nathan und ließ die Taschenlampe fallen. Sie erlosch und ließ sie im Dämmerlicht zurück. Er hörte sein Blut in den Ohren rauschen. Das musste eine optische Täuschung gewesen sein, eine Halluzination. Ein Gas musste hier ausströmen, das hatte wohl auch die Urmenschen getötet. Sie mussten hier schnell raus. „Beeil dich Nathan!“ Er griff nach der Taschenlampe. Knochige Finger umschlossen sein Handgelenk. Neben ihm schrie Nathan panisch auf. Knochenhände fassten nach Valentins Knöcheln und zog daran. Er fiel auf den Rücken und schlug hart mit dem Kopf auf. Ein heftiger Schmerz durchzuckte ihn, dann wurde er tiefer in die Höhle geschleift. In einiger Entfernung konnte er Nathan immer noch schreien hören, dann verstummte er abrupt.
www.sabine-kalkowski-schriftsteller.de

Autor:

Sabine Kalkowski aus Bergkamen

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