Ein Bild - Eine Geschichte
Geheimnis hinter hohen Mauern

Tobin blieb stehen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Ist ganz schön heiß, nicht wahr, Tico?“ Sein Maultier schnaubte und senkte den Kopf. Tobin streichelte ihm über die weichen Nüstern. „Wir haben es bald geschafft. Es ist nicht mehr weit.“ Tobin sprach mehr zu sich selbst als zu dem Tier.
Die hoch aufragenden Mauern waren schon von Weitem zu sehen. Je näher er kam, desto stärker wurde das Kribbeln in seinem Bauch. Er war stolz, dass sein Onkel ihn das erste Mal Ware ausliefern ließ. Lange genug hatte er gebettelt. Er hatte so viel von Escondido gehört und wollte die Stadt mit eigenen Augen sehen. Doch nun, wo es so weit war, hatte er Angst. Sein Magen überlegte noch, ob der das Frühstück nicht wieder von sich geben sollte. Und obwohl ihm Schweiß von der Stirn lief, waren seine Hände kalt. Tobin atmete tief durch. Er konnte jetzt nicht kneifen. Sein Onkel würde wütend sein und seine Brüder ihn auslachen.
Er zog an Ticos Zügel und folgsam setzte sich das Maultier in Bewegung. Der einäugige Yorik wartete auf die Felle, die Tico auf seinem Rücken trug.
Die Mauern wurden größer, türmten sich vor ihm auf. Als ihr Schatten auf ihn fiel, fuhr ihm ein Schauer über den Rücken und ließ ihn frösteln. „Jetzt reiß dich zusammen. Das sind nur Ammenmärchen!“ Er machte die letzten Schritte durch das geöffnete Tor und hielt erneut inne. Mit zusammengekniffenen Augen wartete er einen Augenblick, doch nichts geschah. Er öffnete die Augen wieder und sah sich um. Passanten eilten an ihm vorbei. Manche warfen ihm misstrauische Blicke zu.
Tobin lachte erleichtert auf und klopfte Tico auf den Hals. „Da haben sie mich ganz schön an der Nase herum geführt, die elenden Halunken. Nur Auserwählte dürfen die Stadt betreten. Wer nicht würdig ist, erstarrt zu Stein. Kannst du dir das vorstellen? Und ich habe das tatsächlich geglaubt. Erzähl das bloß niemandem!“ Tico schüttelte den Kopf und schnaubte. „Na, dann wollen wir mal weiter. Wir sollen zum Abend wieder zu Hause sein.“ Tobin führte sein Maultier in die Stadt hinein. Er bewunderte die bunten Waren in den Läden, Töpfe und Geschirr, Stoffe, exotische Früchte, Möbel. Er wusste gar nicht, wo er zuerst hinschauen sollte. Was hatte er heute Abend alles zu erzählen.
Nach und nach bemerkte er die lebensechten, mit Efeu überwucherten Statuen aus Stein. Sie säumten die Plätze und Straßen. Manche schauten die vorbeieilenden Menschen überrascht an. Doch die meisten zeigten schmerzverzerrte Gesichter, die Münder in Qual weit aufgerissen.
www.sabine-kalkowski-schriftsteller.de

Autor:

Sabine Kalkowski aus Bergkamen

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