Ein Bild - Eine Geschichte
Eine Rast zu wenig

Ächzend rückte Ben seinen Rucksack zurecht. Die Träger schnürten sich in seine Schultern und sein T-Shirt klebte ihm unangenehm nass am Rücken. „Verdammte Scheiße!“ Er sah sich ratlos um. Der Weg führte weiter den Berg hinauf. Seit der letzten Kreuzung hatte er keinen Wegweiser mehr entdeckt. Eigentlich sollte er den Wanderparkplatz längst erreicht haben, aber der lag definitiv nicht auf einem Berg. Er holte seine Wasserflasche aus der Seitentasche und nahm einen großen Schluck. Er unterdrückte den Drang, die Flasche trotz seines Durstes leer zu trinken. Wer weiß, wie lange es noch dauerte, bis er den richtigen Weg fand.
Wandern gehen, sich in der Natur an der frischen Luft bewegen. Was für eine blöde Idee, was hatte er sich nur gedacht? Sein Magen zog sich kurz zusammen. Er dachte an eine einsame Nacht im Wald, das Knacken im Unterholz, die Schreie der Waldbewohner, das Krabbelgetier, das auf ihn und in seine Klamotten kriechen könnte, während er erschöpft an einen Baum gelehnt schlief. Ein Schauer lief ihm den Rücken herunter und er setzte sich wieder in Bewegung, weiter den Berg hinauf. Irgendwann musste doch ein Hinweis kommen.
Eine Bank kam in Sicht. Mit einem Seufzer ließ er sich auf das rissige Holz fallen und nahm den Rucksack ab. Er holte das Smartphone heraus. Immer noch kein Empfang. Müde wischte er sich den Schweiß von der Stirn und holte sich einen Müsliriegel aus dem Rucksack. Kurz zögerte er, das war der letzte, doch dann riss er die Verpackung auf und biss ab. Wenn er nicht bald den richtigen Weg fand, dann würde es auch eine hungrige Nacht werden. Er lauschte, während er vor sich hinkaute. Er hörte Vögel, den Wind im Gras und in den Bäumen, aber kein Gelächter und Rufe, die auf andere Wanderer hindeuten könnten. Er schaute den Weg entlang, den er gekommen war. Sollte er zurückgehen? Vielleicht hatte er das Schild übersehen? Aber er war an keiner Weggabelung vorbeigekommen und allein bei dem Gedanken, noch weitere fünf Stunden unterwegs zu sein, protestierten seine Füße.
Er schaute den Berg hinauf. Die Sonne sank schon und würde bald hinter den Bäumen verschwinden. Ein Stück vor ihm gabelte sich der Weg, aber kein Schild war zu sehen. War es vielleicht im letzten Sturm umgeknickt? Hoffnung machte sich in ihm breit. Die letzte Kilometerangabe könnte falsch gewesen sein und dies war der Abzweig, auf den er die ganze Zeit gehofft hatte.
Er stemmte sich in die Höhe, setzte den Rucksack wieder auf und war mit wenigen Schritten an der Weggabelung. In einer Richtung ging es weiter den Berg hinauf, in der anderen Richtung ging es hinab. Ein abgebrochener Pfahl ragte aus dem dichten Gras. Er bückte sich und drückte das Gras zur Seite und atmete auf. Da lag tatsächlich der Wegweiser. Auf ihm zwei auf Eck angebrachte Schilder mit dem gelben Punkt und je einem Pfeil. Es lag so, dass einer der Pfeile Richtung bergab zeigte, so wie er es erwartet hatte. Er hob das Schild auf, versuchte es in den Boden zu rammen, für die Wanderer, die nach ihm kommen sollten. Doch das Wurzelgeflecht war zu dicht und durch die Bewegung löste sich eines der Schilder und dreht sich so, dass es nun auf den Boden zeigte. Ben zuckte mit den Schultern und warf das Schild zurück ins Gras. Dann halt nicht.
Mit den ersten Schritten bergab hob sich seine Laune und ein Lächeln schlich sich in sein Gesicht. Zu Hause wartete ein eisgekühltes Bier, das würde er trinken, während er auf die riesige Pizza Diabolo wartete, die er sich bestellen würde.
Vor ihm flimmerte die Luft. Ben blieb verwirrt stehen. Erst verschwommen, dann deutlicher formte sich eine Gestalt. Es schien, als ob sie sich im Nebel auf ihn zubewegte. Bald konnte er weiße Haare und einen langen Bart ausmachen. Ein alter Mann in einem bodenlangen, erdfarbenen Gewand blieb vor ihm stehen und hob warnend eine Hand.
„Gehe nicht weiter, fremder Wanderer. Nur dieses eine Mal sei gewarnt. Hier beginnt das Nebelreich. Alle zehn Jahre, wenn der Wächter schläft, steht das Tor für kurze Zeit offen. Gehst du hindurch, gibt es kein Zurück. Du wirst da sein, aber auch nicht. Raste, bis die Sonne die Bäume berührt, oder kehre um, sonst wirst du es bereuen!“ Damit verblasste der alte Mann.
Ben spürte ein leichtes Pochen hinter den Schläfen. Rasch nahm er die Flasche und trank das restliche Wasser. Die Kopfschmerzen wurden stärker. Er knetete sich den Nacken, in der Hoffnung, dass sie nachließen. ‚Ich habe zu wenig getrunken oder einen Hitzeschlag oder beides.‘ Er setzte sich in Bewegung. Gehörten Halluzinationen dazu? Ben hielt es für möglich, war sich sicher, davon gelesen zu haben.
Bergab kam er rasch voran, bald gingen die Wiesen in Wald über und es wurde merklich kühler. Nach nicht allzu langer Zeit hörte er Stimmen. Er lachte erleichtert auf. Andere Wanderer, die kamen bestimmt vom Parkplatz. Nun konnte es nicht mehr weit sein. Im Auto hatte er noch eine Flasche Wasser liegen. Wenn er sofort etwas trank, verschwanden die Kopfschmerzen vielleicht schnell wieder.
Ein Pärchen kam in Sicht. „Es ist nicht mehr weit, wir sind bald da!“ Der Mann lächelte der Frau aufmunternd zu und streckte ihr die Hand hin. Sie nahm sie und ließ sich von ihm den Berg hinaufziehen.
„Entschuldigen Sie, ist es noch weit bis zum Parkplatz?“ Die zwei ignorierten Ben. Er war sich sicher, laut genug gesprochen zu haben, doch sie sahen nicht einmal in seine Richtung. „Entschuldigen Sie bitte. Ist das der richtige Weg zum Parkplatz?“ Er war direkt vor ihnen.
„Wir machen Rast, wenn wir oben sind. Picknick mit Aussicht! Ich habe auch eine Überraschung für dich eingepackt.“ Der Mann strahlte die Frau an und die zog neugierig die Augenbrauen hoch. Sie gingen direkt an Ben vorbei, ohne ihm auch nur einen Blick zuzuwerfen.
Das durfte doch nicht wahr sein! Er wollte doch nur eine Auskunft. „He!“ Ben fasste nach dem Arm des Mannes und seine Hand glitt durch ihn hindurch. Einen Moment starrte Ben verblüfft auf seine Finger, dann lief er den zweien hinterher, an ihnen vorbei und stellte sich ihnen in den Weg.
„Nun sag schon, was ist es? Gib mir wenigstens einen Tipp!“
Die zwei gingen durch ihn hindurch, als ob er Luft wäre. Er hörte sie, roch ihr Parfum und sein Aftershave. Sein Magen schrumpfte zu einer glühenden Kugel, seine Beine wurden weich. Sein Atem beschleunigte sich. Er schwankte, taumelte ein paar Schritte vom Weg hinunter und hielt sich an einem Baum fest. Vornübergebeugt atmete er tief ein und aus, konzentrierte sich auf den nächsten Atemzug. Die Kopfschmerzen waren noch stärker geworden und er verspürte eine leichte Übelkeit. Das Wasser, im Auto. Hitzeschlag. Halluzination. Er konzentrierte sich darauf und setzte einen Fuß vor den anderen. Er musste nur etwas trinken, dann war alles gut.
Er erreichte sein Auto, holte den Autoschlüssel heraus, doch als er auf den Knopf drückte, geschah nichts. Er griff nach dem Türgriff, doch seine Hand glitt hindurch. Ben schnürte sich die Brust zu, er bekam kaum noch Luft. Immer wieder griff er nach dem Auto und konnte es nicht fassen. Seine Knie gaben unter ihm nach und er fiel auf den Boden.
Er hörte Schritte und schaute auf. Der alte Mann kam auf ihn zu. Ben wollte nach ihm rufen, doch aus seinem Mund kam nur ein Krächzen. Der alte Mann beugte sich zu ihm hinab, strich ihm sanft über den Kopf und seufzte. „Ich habe dich gewarnt. Ruh dich aus, bald ist der Schmerz vorbei.“
www.sabine-kalkowski-schriftsteller.de

Autor:

Sabine Kalkowski aus Bergkamen

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