Ein Bild - Eine Geschichte

Weite Sicht

Schluchzend lief Brida auf den Leuchtturm zu. Es durfte nicht sein! Es durfte einfach nicht wahr sein! Tränen brannten in ihren Augen und schnürten ihr die Kehle zu. Keuchend erreichte sie den Leuchtturm und hielt einen Moment inne, um nach Luft zu schnappen. Heute Morgen hatten die Neuigkeiten die Runde durch das Dorf gemacht. Die Bäckersfrau hatte es ihr auf dem Markt erzählt, als sie die täglichen Einkäufe erledigte. Nur mit Mühe hatte sie ihre Gefühle unter Kontrolle gehalten, damit niemand ihr ansah, was in ihr vorging. Doch sie musste Gewissheit haben. Entschlossen öffnete sie die Tür und stieg den Turm hinauf.
„Brida, mein Kind, was willst du hier?“, begrüßte ihr Onkel sie nicht ganz so freundlich, wie er es sonst tat.
„Ich muss es wissen, Onkel. Hast du gesehen, was geschehen ist?“
Verzweifelt wrang Brida ihre Hände und starrte ihren Onkel flehend an. Der nickte traurig und bedeutete ihr, sich auf den Stuhl neben ihm zu setzen.
„Ja, meine Liebe, ich habe alles mit angesehen. Gestern Nachmittag, als der Sturm tobte, kam das Schiff zu nah an das Riff. Der Hauptmast war bereits gebrochen und die restlichen Segel hingen in Fetzen herunter.“ Der Onkel schüttelte betrübt den Kopf. „Sie hatten es fast in den Hafen geschafft, doch der Wind und die Strömung haben sie erbarmungslos auf die Felsen getrieben. Sie hatten keine Chance.“
Tränen liefen Brida über die Wangen. Atemlos fragte sie:
„Konntest du erkennen, welches Schiff es war?“
Ihr Onkel sah sie unsicher an und schüttelte dann den Kopf. Doch er konnte Brida nicht täuschen.
„Du hast es erkannt. Es war die Königin des Sturms, habe ich Recht?“
Der Gesichtsausdruck ihres Onkels sagte alles und aufschluchzend verbarg Brida ihr Gesicht in ihren Händen.
Ihr Onkel legte sanft den Arm um sie, doch als er sprach, lag nichts Sanftes in seiner Stimme:
„Er hat bekommen, was er verdient hat. Ich habe dir so oft gesagt, dass du dich nicht mit einem Piraten einlassen sollst. Sei froh, dass er dich nicht auch mit in den Abgrund gerissen hat!“
www.sabine-kalkowski-schriftsteller.de

Autor:

Sabine Kalkowski aus Bergkamen

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