Ein Bild - Eine Geschichte
Die Tropfsteinhöhle

Fabian duckte sich hinter den Busch. „Da vorne ist er!“ Er rutschte ein wenig zur Seite, damit Matthis ebenfalls einen Blick auf den Fuchs werfen konnte.
„Sollten wir nicht zurückgehen?“ Matthis Stimme klang dünn. „Oma hat gesagt, wir sollen nicht so tief in den Wald hineingehen. Ich kann gerade noch das Feld sehen, noch sind wir nicht zu weit gegangen.“
Fabian schnaufte verächtlich. Sein kleiner Bruder war wirklich eine Memme. „Es sind nur Bäume und Sträucher, was soll uns hier schon passieren? Wir müssen uns nur den Weg merken.“ Der Fuchs hob schnuppernd die Schnauze und verschwand im Unterholz. „Ich gehe ihm nach. Du kannst ja zurück zum Hof laufen und dich dort langweilen.“ Fabian ging um den Busch herum und folgte dem schmalen Trampelpfad, der in die Richtung verlief, in die auch der Fuchs verschwunden war. Er hörte, dass Matthis ihm hinterhertrottete, und lächelte zufrieden. „Es gibt hier sogar einen Weg, siehst du? Wir sind nicht die Einzigen, die in den Wald gehen.“
Sie folgten eine Weile schweigend dem Pfad. Hin und wieder erhaschte Fabian einen Blick auf einen roten Schwanz mit weißer Spitze. Wo hatte der Fuchs wohl seinen Bau? Der Weg wurde schmaler und verschwand schließlich ganz. Anscheinend kam hier doch nicht so oft jemand lang.
Fabian sah sich suchend um. „Schade, er ist verschwunden. Wahrscheinlich sind wir zu laut gewesen.“
Matthis rückte dicht an ihn heran. Auch er sah sich um. „Können wir jetzt wieder zu Oma?“
Fabian verdrehte die Augen. „Wieso? Wir sind doch gerade erst angekommen. Oma vermisst uns noch nicht.“ Er drehte sich um und zeigte auf eine Stelle zwischen den Bäumen. „Da ist der Pfad, siehst du? Kein Grund zur Sorge.“
Matthis nickte zögernd. Fabian schüttelte verächtlich den Kopf und ging ein Stück weiter. Die Bäume öffneten sich zu einer kleinen Lichtung. Sonnenstrahlen tanzten auf den Blättern. Fabian hörte Vögel in der Nähe zwitschern. Es knackte und raschelte im Unterholz. Vielleicht sahen sie den Fuchs ja doch noch einmal. Er atmete tief ein und wunderte sich dann. Wieso nur wollte Oma, dass sie nicht hierherkamen? Es war schön hier. Überall gab es etwas zu entdecken, ein richtiger Abenteuerspielplatz. Auf dem Bauernhof von Oma und Opa gab es zwar auch viel zu sehen, aber das kannte er schon alles. Und leider hatten seine Großeltern nicht viel Zeit für sie. Auch wenn sie in Rente waren, halfen sie immer noch mit. Sie mochten ihre Arbeit einfach. Sie hatten den Hof vor zwei Jahren unter der Bedingung verkauft, dass sie in dem Wohnhaus so lange wohnen durften, wie sie wollten, und mit anpacken durften, solange sie es konnten. Die neuen Besitzer waren froh über die Unterstützung. Aber das hieß auch, dass sich Fabian und Matthis tagsüber selbst beschäftigen mussten.
Matthis stand immer noch dicht bei ihm. Er fühlte sich sichtlich unwohl und vermutlich auch zu Recht. Wenn Oma etwas verbot, dann meinte sie es auch. Es würde eine ordentliche Standpauke geben, wenn sie es merkte und leider entging Oma nur sehr selten etwas. Er stieß Matthis an. „Was hältst du davon, wenn wir einen Strauß Blumen pflücken und Oma mitbringen. Dann meckert sie vielleicht nicht so sehr.“
Matthis‘ Miene hellte sich auf und er nickte. Auf der Lichtung gab es viele Farbtupfer und schnell hatten sie einen ansehnlichen Strauß zusammen.
Fabian pflückte eine letzte Blume, als sein Blick auf eine Öffnung in den Felsen fiel, welche die Lichtung an einer Seite begrenzten. Er wunderte sich ein wenig, dass sie ihm nicht vorher aufgefallen war. Als ob sie sich erst geöffnet hatte, als er und sein Bruder näher gekommen waren. Er warf einen Blick hinein. Der Boden war von Moos überwuchert und er konnte an den Seiten Tropfsteine erkennen. Das musste er sich genauer ansehen. Er drehte sich zu Matthis um. „Ich will nur mal kurz gucken. Da sind Tropfsteine drin, so wie in der Höhle, die wir letztes Jahr mit Mama und Papa besichtigt haben. Kannst ja hier warten, wenn du nicht mit reinkommen willst.“
Matthis schnaufte kurz, folgte ihm dann in die Höhle. Der Boden war weich, fast schwammig und sie mussten sich anstrengen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Es roch muffig, als ob hier drinnen etwas lebte. Fabian hatte ein mulmiges Gefühl im Bauch. Aber jetzt umzukehren, würde bedeuten, dass er eingestehen musste, dass er Angst hatte. Das ging auf gar keinen Fall. Nicht wenn Matthis dabei war.
Er hörte seinen kleinen Bruder dicht hinter sich angestrengt atmen. „Wonach riecht es hier?“ Matthis Stimme klang schon wieder sehr dünn, wie immer, wenn er große Angst hatte.
„Das ist eine Höhle, die riechen halt komisch.“ Fabian steuerte auf die Tropfsteine zu. Es gab welche auf dem Boden, die in die Höhe wuchsen und welche, die von der Decke hingen. Welche davon waren die Stalagmiten und welche die Stalaktiten? Er zuckte mit den Schultern und besah sie sich genauer. Sie sahen anders aus als die Tropfsteine, die sie letztes Jahr gesehen hatten, viel regelmäßiger und ein sanftes Licht schien von ihnen auszugehen. Sehr merkwürdig. Vorsichtig berührte er einen der Tropfsteine. Ein Grummeln ertönte in der Tiefe der Höhle und der Boden bewegte sich. Matthis wimmerte neben ihm. Fabian nahm ihm am Arm. „Lass uns verschwinden, das ist jetzt doch komisch.“ Matthis nickte heftig. Sie machten einige Schritte in Richtung Ausgang, als sich der Boden wieder bewegte. Die heftige Wellenbewegung riss sie von den Füßen und Fabian ließ die Blumen fallen. Die Decke senkte sich. Erst langsam, dann immer schneller. Fabian sah, wie die Tropfsteine sich erst berührten, dann aneinander vorbeiglitten, als seien es Zähne. Eine erneute Wellenbewegung ließ ihn und seinen Bruder tiefer in die Höhle hineinrutschen. Der Boden war nicht nur weich, er wurde zusehends feuchter und glatter. Glitschige Flüssigkeit tropfte von der Decke, die nun dicht über ihnen war.
Mit der nächsten Bewegung glitten sie weiter, immer tiefer und schneller, denn es ging nun bergab. Neben sich hörte Fabian seinen Bruder schreien und merkte dann, dass er selbst aus voller Kehle schrie.
www.sabine-kalkowski-schriftsteller.de

Autor:

Sabine Kalkowski aus Bergkamen

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