Ein Bild - Eine Geschichte
Das verbotene Zimmer
Theresa fuhr sanft mit einem Finger über den Wandbehang. Die Farben waren verblasst, aber trotzdem sah er gepflegt aus, wie das ganze Schloss Fairy Glen. Sie konnte sich an dieses Schloss kaum erinnern, es war nur ein kurzes Aufblitzen von Erinnerungen, Bilder vor ihrem inneren Auge. Sie war knapp drei Jahre alt gewesen, als ihre Mutter verschwand. Seitdem hatte sie mit ihrem Vater auf Schloss Kindersley, dem Hauptsitz der Familie, gelebt.
Sie schlenderte weiter, schaute aus den Fenstern der kleinen Salons, die sich in einer Flucht aneinanderreihten, auf den bunten Garten hinaus. Die Beete waren frei von Unkraut, die Blumen wohl ausgesucht, damit immer etwas blühte und dem Grün Farbe gab. Auch wenn sie sich nie in auf Fairy Glen aufhielten, hatte ihr Vater doch all die Jahre dafür gesorgt, dass es nicht verfiel. Das Personal pflegte den Garten, hielt das Schloss sauber und in Schuss. Warum nur?
Sie stieg die Treppe hinunter ins Erdgeschoss und folgte dem Duft nach frisch gebackenem Kuchen, der sie unweigerlich in die Küche führte. Rachel, die Köchin, holte gerade einen Kastenkuchen aus dem Ofen. Es roch nach Karamell und Zitrone. Theresa seufzte unwillkürlich und Rachel bemerkte sie. „Ah, die kleine Prinzessin. Gerade rechtzeitig.“ Sie lachte, zog einen Stuhl vom Tisch ab und bedeutete Theresa sich hinzusetzen. Ein Stück des noch dampfenden Kuchens landete auf einem Teller vor ihrer Nase. „Wir haben so selten Gäste hier auf Fairy Glen, ich werde dich nach Strich und Faden verwöhnen!“ Rachel strich Theresa über den Kopf. Wieder blitzte eine Erinnerung auf und Theresa war sich sicher, dass Rachel das auch getan hatte, als sie hier noch gelebt hatte.
„Warum sind hier selten Gäste?“ Theresa nahm eine Gabel voll Kuchen und verbrannte sich fast den Mund.
Rachel seufzte und setzte sich zu ihr. „Seit deine Mutter verschwand, steht das Schloss praktisch leer. Dein Vater kommt nur einmal im Jahr hierher und legt einen Blumenstrauß vor die leere Gruft.“
Theresa nickte. Sie wusste, welchen Ort Rachel meinte. In einer Ecke des Gartens lag die Familiengruft, davor stand eine Frauenstatue, die wohl ihre Mutter darstellen sollte. „Ich wusste gar nicht, dass er überhaupt hierherkommt.“ Sie ließ die Gabel sinken. „Er erzählt nichts von Mutter. Weder über ihr Verschwinden, noch wie sie war. Kein Wort. Wenn ich ihn frage, weicht er aus oder schweigt einfach.“
Rachel seufzte und tätschelte ihre Hand. „Er hat sie sehr geliebt und war untröstlich, als sie verschwand. Böse Zungen behaupten, dass sie ihn verlassen hat, mit einem Liebhaber davongelaufen ist.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich glaube, dass ihr etwa zugestoßen ist. Im Wald außerhalb des Gartens gibt es einen tiefen See, der Wald ist voller Felsen. Man kann leicht stolpern und sich den Kopf anschlagen.“
„Hat man denn nicht nach ihr gesucht?“ Theresa nahm ein Stück Kuchen in den Mund und kaute nachdenklich.
„Doch, natürlich. Aber der Wald ist so groß und wild, wenn dir dort etwas passiert, dann findet dich niemand.“ Rachel rückte ein Stück zu Theresa heran und fuhr mit gesenkter Stimme fort: „Sie ist noch hier, da bin ich mir sicher.“ Sie nickte bestimmt, als Theresa sie mit großen Augen ansah. „Ihr Geist wandelt durch die Flure und Zimmer. Nicht nur bei Nacht. Ich habe sie auch schon tagsüber gesehen.“ Sie lehnte sich zurück. „Vielleicht ist das der Grund, warum dein Vater dieses Schloss am Leben hält. Deine Mutter ist noch hier. Hier kann er ihr nahe sein.“ Sie schwieg einen Moment. „Heute ist es zwanzig Jahre her, dass sie verschwunden ist, weißt du? Sie war so alt, wie du es jetzt bist.“
„Ich habe heute eine Tür entdeckt, in dem Flur hinter dem grünen Salon. Sie ist ganz versteckt und verschlossen. Was ist in dem Raum?“ Theresa schnitt ein Stück vom Braten ab, schob es sich in den Mund und sah ihren Vater fragend an. Er war sehr schweigsam, seit sie in Fairy Glen angekommen waren. Nicht, dass er sonst viel redete, aber hier sprach er kaum noch ein Wort. Auch jetzt reagierte er nicht. Theresa seufzte frustriert. „Rachel hat mir erzählt, dass es heute zwanzig Jahre her ist, dass Mutter verschwunden ist.“
„Rachel redet zu viel.“
„Mit irgendwem muss ich ja reden. Du sprichst ja nicht mit mir.“ Theresa war der Appetit vergangen. Sie konnte genauso gut alleine essen, wäre vielleicht sogar besser als dieses kalte Schweigen. „Also, was ist in diesem Raum? Er ist der einzige, der abgeschlossen ist.“ Schweigen. „Wenn du es mir nicht sagst, werde ich eben Rachel fragen oder Edmund. Die wissen es bestimmt.“
„Nichts wirst du tun!“ Ihr Vater erhob die Stimme. Er klang zornig.
Theresa sah ihn überrascht an. „Warum? Was ist ...“
Ihr Vater stand so rasch auf, dass sein Stuhl umkippte. „Du wirst diesem Raum fernbleiben. Geh auf dein Zimmer. Das Abendessen ist beendet!“ Er starrte sie wütend an.
Überrascht von seiner heftigen Reaktion stand sie auf und verließ den kleinen Saal, in dem sie aßen. An der Tür drehte sie sich um. Er saß wieder und hatte den Kopf schwer auf die Hände gestützt. Seine Schultern bebten, als ob er weinte.
Sie tastete in ihrer Tasche nach den Schlüsseln, die sie vorhin aus dem Küchenschrank genommen hatte. Sie hatte sie gestern entdeckt und Rachel hatte ihr gesagt, dass keiner mehr wusste, zu welchen der Zimmer sie gehörten. Vielleicht hatte sie ja Glück. Sie stieg die Treppe wieder hinauf und steckte einen Schlüssel nach dem anderen in das Schloss. Nichts tat sich. Den vorletzten Schlüssel konnte sie ein Stück drehen. Sie bewegte ihn hin und her, immer ein Stück weiter.
„Geh nicht hinein!“ Theresa zuckte zusammen. Im Halbdunkel neben ihr konnte sie eine durchscheinende Gestalt erkennen. Sie hielt den Atem an, hörte ihr Herz laut pochen. Die Gestalt kam näher, es war eine junge Frau. Dann verblasste sie. Theresa stieß laut ihren Atem aus. Sie musste sich das eingebildet haben. Sie drehte den Schlüssel ein letztes Stück, drückte die Klinke herunter und leise quietschend schwang die Tür auf. Sie betrat das Zimmer. Die Vorhänge waren zugezogen, es roch sehr muffig, überall lag Staub. Sie sah sich neugierig um und erstarrte. Auf dem Bett lag jemand. Sie kam näher und schreckte zurück. Auf dem dem Bett lag ein Skelett, die Hände Füße mit Stricken an das Bett gefesselt. Es trug das Kleid, das ihre Mutter auf dem einzigen Bild von ihr in Schloss Kindersley trug.
Jemand kam ins Zimmer. Sie drehte sich um. Ihr Herz klopfte so stark, als wollte es aus ihrer Brust springen, ihr Mund war trocken, sie brachte keinen Ton heraus. Ihr Vater schloss die Tür hinter sich ab und betrachtete sie mit einem seltsamen Blick, der ihr einen Schauer den Rücken hinunterjagte. Er kam auf sie zu, sie wich zurück, bis sie das Bett in den Kniekehlen spürte. Ihre Mutter war nicht verschwunden, sie war hier gestorben. Hatte ihr Vater sie getötet? Würde er sie jetzt auch umbringen, weil sie sein Geheimnis entdeckt hatte?
Ihr Vater ging an ihr vorbei, setzte sich auf das Bett und strich sanft über den Schädel. Der Geist der Frau erschien und streichelte ihm über das Gesicht. Er seufzte und schloss die Augen. „Ich vermisse dich immer noch.“ Er sah Theresa an und lächelte traurig. „Sie war krank. Anfangs merkte ich es kaum. Doch es wurde immer schlimmer. Es gab gute Tage, da war alles normal und es gab schlechte Tage.“ Er schwieg einen Moment. „Sie glaubte, das Käfer unter ihrer Haut waren, die sie auffraßen. Sie wollte sie sich herausschneiden. Ich habe sie an das Bett gefesselt, damit sie sich nichts antut. Draußen hat es gestürmt, ich hätte erst am Morgen nach einem Arzt schicken können. Ich bin nur kurz draußen gewesen, habe nach ihren Tropfen gesucht, die sie zur Beruhigung nahm. Als ich zurückkam, war sie tot. Sie muss bewusstlos geworden sein und war erstickt.“ Tränen liefen ihm über die Wangen und er schluchzte leise. Theresa starrte ihn an, unfähig sich zu bewegen. Der Geist ihrer Mutter strich ihrem Mann wieder über den Kopf, umarmte ihn und er beruhigte sich. Dann kam sie zu Theresa, streichelte auch ihr über die Wange. Es war wie ein Windhauch.
„Du bist so groß geworden, mein kleines Mädchen. Ich wünschte, du hättest mich nie so gesehen.“ Dann verschwand sie.
„Warum hast du sie nicht begraben?“ Theresas Stimmer war nur ein Krächzen.
Ihr Vater sah auf. „Ich weiß nicht. Ich glaube, wenn ich sie begrabe, dann verschwindet sie, dann verliere ich sie für immer.“
„Ich werde immer da sein!“ Sie hörten nur die Stimme. Langsam nickte ihr Vater. Gemeinsam legten sie die Gebeine in eine Kiste und trugen sie in den Garten. Der Mond leuchtete ihnen den Weg. Blumenduft lag schwer in der Luft. Sie stellten die Kiste in die Mitte der kleinen Gruft, Theresa legte einige Blumen darauf, die sie auf dem Weg durch den Garten gepflückt hatte.
Als sie aus der Gruft traten, wartete ihre Mutter auf sie und streckte ihnen lächelnd die Hände entgegen.
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Autor:Sabine Kalkowski aus Bergkamen | |
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