Ein Bild - Eine Geschichte
Das Porträt

Heiß brannte die Sonne in Jenicas Nacken. Ihr Unterkleid war schweißgetränkt. Warum nur musste sie hier in diesem muffigen Zimmer in diesem viel zu warmen Kleid sitzen?
„Bitte nicht bewegen!“, ertönte es wie schon viele Male hinter der Staffelei hervor. Kurz schob sich der Kopf des alten Malers an der Seite vorbei. Er sah sie mit gerunzelter Stirn an, verzog dann aber sein Gesicht zu einem Grinsen, das ihr einen Schauer über den Rücken jagte. Irgendetwas stimmte mit dem Kerl nicht.
Ihr Vater betrat den Raum und warf einen Blick auf das Bild. „Sehr schön, so hatte ich mir das vorgestellt.“ Der Maler verbeugte sich tief und Janica entging der boshafte Ausdruck, der über sein Gesicht huschte, nicht. Ihr Vater bemerkte es nicht. Er betrachtete immer noch verzückt Janicas Porträt, für das sie nun seit Mittag auf diesem unbequemen Sessel im blauen Salon saß. Hier waren schon ihre Geschwister gemalt worden, sowie ihre Eltern und ihre Großeltern. Nun sollte auch ihr Porträt endlich seinen Platz in der Galerie einnehmen.
„Ich werde noch etwas Zeit benötigen, es ist recht grob. Ich muss ihm noch Leben einhauchen“, bemerkte der Maler kritisch.
„Aber aber, mein Bester. Es ist jetzt schon wunderschön. Die Details des Gartens, den man im Fenster sieht, die Ornamente des großen Spiegels neben dem Sessel und Janicas Bild darin ... Sie übertreffen sich wieder einmal selbst.“ Janicas Vater nickte dem Mann wohlwollend zu, worauf sich dieser erneut verbeugte.
Kaum hatte ihr Vater die Tür hinter sich geschlossen, machte sich der Maler wieder ans Werk. Janica hörte ihn vor sich hinmurmeln, schnappte einige Brocken auf.
„Noch lange nicht fertig ... leblos ... muss die Jugend einfangen ...“
Janica seufzte. Dieser Pedant. Wenn das so weiterging, saß sie noch heute Abend hier. Wie lange konnte es denn dauern, so ein blödes Bild zu malen, und wieso musste sie die ganze Zeit still sitzen? Der Mann sah sie doch kaum an. Sie bewegte sich ein wenig, ihre Beine schliefen allmählich ein.
„Jetzt nicht bewegen!“, ertönte es scharf hinter der Staffelei. „Jetzt ist die kritische Phase, bitte absolut still sitzen!“
Janica atmete tief durch. Sie brauchte eine Pause und wenn er nicht bald fertig werden würde, dann würde sie einfach aufstehen.
Der Maler brummelte zufrieden hinter der Staffelei vor sich hin. Schaute immer wieder zu ihr herüber. Es war so ermüdend. Janicas Rücken begann zu schmerzen, sie spürte ihre Füße und ihr Hinterteil kaum noch. Mühsam unterdrückte sie ein Gähnen. Hunger und Durst quälten sie ebenfalls. Sie musste die Augen verengen, um den Maler und seine Staffelei noch klar zu erkennen. Wurde es etwa schon dunkel? Darum zwitscherten wohl auch die Vögel leiser. Sie waren ebenfalls müde. Aber wieso spürte sie dann immer noch die Sonne im Nacken?
„Jetzt ist es gleich geschafft, nur noch ein paar Pinselstriche und das Bild ist fertig.“ Der Maler klang zufrieden und Janica seufzte erleichtert.

Wieder ging die Tür auf und ihre Eltern betraten das Zimmer. Der Vater richtete sein Blick sofort auf das Porträt und begann den Maler überschwänglich zu loben. Ihre Mutter starrte sie mit weitaufgerissenen Augen entsetzt an. Sie presste ihre Hände auf den Mund, um den Schrei zu ersticken, der ihr entwich.
„Mama, was ist ...?“
Mit einem Seufzer fiel Janicas Mutter zu Boden. Ihr Vater kniete sich neben sie und rüttelte sie. „Melinda, was ist mit dir? Wach doch auf!“ Er sah auf und sein Blick fiel auf Janica. Seine Kinnlade klappte herunter und er riss vor Schreck die Augen so weit auf, dass es aussah, als ob sie ihm gleich aus dem Gesicht fallen würden.
Was war bloß los? Janica drehte den Kopf zur Seite und sah in den Spiegel. Sie fing an zu schreien und konnte nicht mehr aufhören. Ihre Haare waren nur noch dünne graue Strähnen, ihre Haut runzlig und fleckig, das Kleid hing an ihrem mageren Leib, wie ein Sack.
„Was haben Sie mit ihr gemacht?“, schrie ihr Vater den Maler an und ließ ihre Mutter auf den Boden sinken.
Der Mann warf einen letzten Blick auf das Gemälde, bevor er es mit Stoff bedeckte. „Ich habe ihre Jugend und Schönheit auf Leinwand gebannt, ganz so, wie Ihr es gewünscht habt.“ Er lachte gackernd und nahm das Bild von der Staffelei. „Jetzt bleibt sie für immer schön und jung. Ich werde gut auf sie aufpassen.“
„Machen Sie das sofort rückgängig!“ Ihr Vater war aufgesprungen und packte den Mann am Arm.
Der schüttelte ihn mit überraschender Kraft ab und stieß ihn zu Boden. „Lange habe ich darauf gewartet, dass Ihr mich Eure Tochter malen lasst. Nun gebe ich sie nicht wieder her.“
Bevor ihr Vater wieder auf den Beinen war, verschwand der alte Mann mit ihrem Porträt und ihrer Jugend und Schönheit durch die Tür. Wütend schrie ihr Vater nach den Angestellten, schickte einige Diener dem Mann hinterher, einen anderen zu einem Arzt. Ihre Mutter erwachte stöhnend, doch ihr Vater kam zu Janica, die im Sessel zusammengesunken war, und stützte sie vorsichtig. „Keine Sorge, mein Schatz. Wir finden den Hexer. Er muss dir deine Jugend zurückgeben. Gib nicht auf.“
www.sabine-kalkowski-schriftsteller.de

Autor:

Sabine Kalkowski aus Bergkamen

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