Ein Bild - Eine Geschichte
Bitte Stille bewahren!
Erik rückte seinen Rucksack zurecht und schaute den schmalen, steilen Weg hinauf.
Leon kam schnaufend neben ihm zum Stehen. „Da hoch? Im Ernst?“
Erik grinste seinen keuchenden Freund an. „Wandern war deine Idee. Die Aussicht genießen und frische Waldluft atmen. Das waren deine Worte.“
Leon wischte sich den Schweiß von der Stirn und knurrte beleidigt. „Woher sollte ich wissen, dass es so anstrengend ist und es irgendwie nur bergauf geht?“
Erik lachte lauthals und klopfte ihm auf die Schulter. „Bewegung ist immer anstrengend, mein Bester. Und die gute Aussicht gibt es nur oben. Na los. Du wirst es überleben.“ Er bog in den Weg ein.
„Wieso bist du noch so fit? Das ist doch nicht normal!“, maulte Leon, folgte ihm aber. Nach ein paar Schritten hielt er inne und bog einige Zweige am Wegrand zur Seite. „Erik, schau mal!“
Erik ging zu ihm zurück.
Leon hatte ein Schild freigelegt. Darauf war ein merkwürdiger Vogel in einem roten Kreis zu sehen. Dazu stand auf dem Schild: ‚Achtung, Stille bewahren! Betreten auf eigene Gefahr!‘ Er kicherte. „Das ist ein Scherz. Schau dir nur das Vieh an. Was soll das sein? Wenn das ein Vogel sein soll, dann muss da jemand definitiv Zeichnen üben.“
Erik zuckte mit den Schultern. „Ein Schutzgebiet ist hier auf jeden Fall nicht.“
Leon stieß ihn an. „Ich weiß es. Hier geht es bestimmt zu einem Treffpunkt für Pärchen und damit sollen ungebetene Besucher abgeschreckt werden.“ Er lachte und stiefelte entschlossen den schmalen Weg hinauf. „Na los, vielleicht überraschen wir welche!“, rief er über die Schulter zurück.
Erik schüttelte den Kopf. Leon und seine merkwürdigen Ideen.
Der Weg wurde steiler und steiniger. Immer wieder standen die seltsamen Warnschilder am Rand. Leon schnaufte wie ein verwundetes Rhinozeros und wurde stetig langsamer. Aber bevor er aufgab, öffnete sich der Weg auf einen langen breiten Felsvorsprung. Leon ließ mit einem erleichterten Ächzen den Rucksack vom Rücken rutschen.
Erik schaute sich um. Hinter ihnen erhob sich eine steile Felswand, vor ihnen hatte man einen herrlichen Blick in das Tal hinunter und auf die gegenüberliegenden Berge. Die Luft war klar, er konnte sogar die Dächer des Dorfes erkennen, in dem sie Urlaub machten und von dem sie aufgebrochen war. Direkt am Abgrund stand wieder eins dieser Schilder.
Leon stellte sich neben ihn. Er schien ein wenig enttäuscht zu sein. „Hier ist nichts. Keine Höhle oder so, wo man es sich gemütlich machen könnte.“
Erik verdrehte die Augen und deutete auf das Tal. „Ist das nichts? Genieß doch einfach die Aussicht. Dafür sind wir hier!“ Er holte sein Handy heraus und schoss ein Foto.
Leon legte die Hände zu einem Trichter vor dem Mund. „Hallo, Echo!“ Er lachte, als das Echo von den Bergen widerhallte.
Gerade als er erneut rufen wollte, ertönte über ihnen ein schrilles Pfeifen. Erik suchte den Himmel ab und entdeckte einen großen Vogel, der auf sie zukam. Aber irgendwie sah er merkwürdig aus. Er zeigte darauf. „Sieh mal. Was ist das?“
Leon beschirmte die Augen. „Keine Ahnung.“
Es kam näher. Erik hielt mit dem Handy darauf. Als er sich das Bild in Vergrößerung anschaute, traute er seinen Augen nicht. Das war ein Adler und sein Hinterteil sah aus wie von einem Löwen. Das sah aus wie ein Greif, ein Fabelwesen. Aber das gab es doch nicht in echt!
Leon zog an seinem Ärmel. „Erik, wir sollten verschwinden.“ In seiner Stimme klang ein Hauch von Panik mit.
Erik sah auf und erkannte, dass das Wesen viel größer als ein Adler war, und es hielt direkt auf sie zu. Wieder schrie es, und Erik stellten sich die Haare auf. Das klang sehr wütend. Neben sich hörte er Leon aufgeregt schnaufen. Sein Herz pochte so sehr, dass seine Brust bebte, doch er stand wie gelähmt da. Leon neben ihm wimmerte. Der Greif hatte sie fast erreicht. Als er wieder schrie, ging ein Ruck durch Leon. Er machte einen Schritt rückwärts, dann noch einen, drehte sich um und lief auf den Weg zu, der in den Wald führte. Bevor er den Schutz der Bäume erreichte, war der Greif über ihm. Seine spitzen Krallen packten den schreienden Leon, schüttelten ihn und Erik hörte Knochen brechen. Er drückte sich fest an den Felsen, hoffte, so für das Wesen unsichtbar zu sein. Entsetzt musste er zusehen, wie der Greif mit seinem scharfen Schnabel Leons leblosen Körper zerfetzte. Er unterdrückte ein Wimmern und presste sich die Hände auf die Ohren, um das Brechen der Knochen, die der Greif mit jedem Biss zermalmte, nicht hören zu müssen. Dann richtete dieser sich auf, schüttelte sich und spreizte die Flügel.
Erik wagte es kaum zu atmen. Lautlos betete er: „Bitte flieg weg! Bitte flieg weg!“
Der Greif schwang sich in die Lüfte.
Eriks Beine gaben unter ihm nach, und er rutschte den Felsen hinunter auf den Boden. Eine Weile hockte regungslos er da. In seinen Gedanken war Chaos. Was sollte er jetzt tun? Sein Blick wanderte zu dem blutigen Haufen aus Stoff, Knochen und Fleischresten. Leons Kopf war nahezu unversehrt, sein Mund entsetzt aufgerissen. Erik musste würgen und übergab sich. Zitternd wischte er sich den Mund ab. Er konnte nicht hierbleiben. Er musste jemandem Bescheid sagen. Langsam kam er auf die Beine. Den Blick starr auf den schmalen Weg geheftet machte er die ersten Schritte, als erneut das Pfeifen ertönte.
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Autor:Sabine Kalkowski aus Bergkamen | |
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