Ein Bild - Eine Geschichte
Am Ende der Treppe
Melina klopfte den Staubwedel aus und packte ihn in den Schrank. Das Abstauben wäre erledigt. Jetzt noch die Flure zwischen den Regalen wischen und sie hatte es geschafft. Die Bibliothek in Foxhill war nicht sehr groß und immer schnell geputzt. Normalerweise war sie Melinas letzter Job am Donnerstagnachmittag und sie hatte danach Zeit, ein wenig in den Büchern zu stöbern. Doch heute musste sie sich beeilen, denn die Tarberts hatten einen zusätzlichen Termin vereinbart. Sie erwarteten am Wochenende Besuch, da musste das Haus glänzen.
Melina wollte den Eimer und den Mopp gerade in den Putzschrank im Büro räumen, als ihr auffiel, das ein Flügel des Schranks neben dem Tresen aufstand. Merkwürdig, normalerweise war der verschlossen. Die Bücher daraus wurden nicht an jeden ausgegeben, hieß es zumindest. Sie stellte Eimer und Mopp ab und wollte die Schranktür zudrücken, als sie Stimmen hörte. Die kamen aus dem Schrank! Melina zog die Tür auf und anstatt Fächer voller Bücher fand sie einen Durchgang, an den sich eine enge Wendeltreppe anschloss. Flackerndes Kerzenlicht erhellte die Stufen mehr schlecht als recht. Ihr Herz fing an zu klopfen. Was war das? Die Stimmen schienen eine Beschwörung zu sprechen. Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass sie schleunigst verschwinden sollte, doch ihre Neugier war größer. Sie musste wissen, wer da unten war. Nur einen Blick. Die Leute schienen so beschäftigt zu sein, sie würden sie schon nicht bemerken.
Stufe um Stufe tastete sie sich vor. Sie bemühte sich, ruhig zu atmen, keinen Mucks von sich zu geben. Die weichen Sohlen ihrer Turnschuhe machten kaum Geräusche auf den Stufen. Sie wurde immer nervöser, je tiefer sie stieg. Nahm diese Treppe kein Ende? Ihre Hände zitterten, während sie sich an der rauen Wand entlangtastete. ‚Noch zwei Stufen, dann kehre ich um‘, sagte sie sich, doch dann wurde es heller. Licht drang aus der Tiefe. Die Stimmen waren mit jedem Schritt lauter geworden und nun sah Melina sie. In lange Mäntel gehüllt, standen sie im Kreis um ein Zeichen auf dem Boden, das sie nicht genau erkennen konnte. Sie hatten die Kapuzen tief in die Gesichter gezogen. Ihre Beschwörung schien einen Höhepunkt zu erreichen und in ihrer Mitte fing es zu rauchen an. Plötzlich war sich Melina sicher. Sie beschwörten einen Dämon, es konnte gar nicht anders sein. Sie hätte nie an so etwas geglaubt, aber nun sah sie es vor sich. Sie beugte sich vor und ihr Schlüssel fiel ihr klappernd aus der Tasche.
Die Beschwörung brach ab. Die Gestalten drehten sich zu ihr. „Was war das?“
Melina kam die Stimme bekannt vor. Rasch klaubte sie den Schlüssel von der Stufe. Die erste der Gestalten war schon auf dem Weg zur Treppe. Sie musste schleunigst verschwinden. Melina hastete die engen Stufen hoch, hörte nur ihr lautes Keuchen. Noch konnte sie ungesehen entkommen. Sie schlug die Schranktür hinter sich zu, rannte aus der Bibliothek, warf die Tür ins Schloss. Beim Abschließen ließ sie den Schlüssel erneut fallen. Sie schluchzte verzweifelt, hob ihn auf und rammte ihn ins Schloss. Waren da Schritte hinter der Tür? Sie schloss ab, lief zu ihrem Auto, würgte es beim ersten Versuch anzufahren ab und fuhr dann mit überhöhter Geschwindigkeit aus Foxhill heraus in Richtung Draycot. Nach einem Kilometer hielt sie am Straßenrand an und lachte zitternd. Was für eine verrückte Sache. Ihr Lachen erstarb. Sie hatte den Eimer und den Mopp nicht weggestellt. Die Dämonenbeschwörer würden genau wissen, wer sie belauscht hatte.
Die ganze Woche fürchtete Melina sich vor dem nächsten Donnerstag. Wenn sie nur wüsste, wer sich da unter den Kapuzen versteckt hatte. Waren diese Leute aus Foxhill?
Sie war schon kurz davor, sich krankzumelden, aber nachher hatten diese Leute nichts mit den Bewohnern von Foxhill zu tun. Und Frau Minster, die Bibliothekarin, zählte auf sie. Immer wieder lobte sie Melina für ihre Zuverlässigkeit. Nein, sie musste da durch.
Am Donnerstag schloss sie kurz nach vier die Tür zur Bibliothek auf. Alles war ruhig. Die Türen des Schranks neben dem Tresen waren geschlossen, das konnte sie von hier aus sehen. Sie atmete erleichtert auf. Vielleicht hatte sie sich das nur eingebildet. Der Stress, das musste es sein. Sie arbeitete einfach zu viel. Sie hätte sicherlich auch davon gehört, wenn ein Dämon in Foxhill sein Unwesen treiben würde.
Sie hatte gerade die ersten Bücher abgestaubt, als die Tür zu Bibliothek geöffnet wurde. Füße trappelten über das Linoleum. Sie spähte zwischen den Büchern hindurch und erkannte lange Mäntel. Sie schlug die Hand vor den Mund, um den Schrei zu ersticken, der ihr entfuhr. Hastig sah sie sich nach einer Fluchtmöglichkeit um. Dann trat die erste Gestalt in den Gang, in dem sie gerade Staub wischte. Melina blinzelte ungläubig. Es war Pastor Taunton. Hinter ihm stand seine Frau. Von der anderen Seite drängten sich Herr Wicklow, der Gemischtwarenhändler, und Herr Cavan, der Fleischer, in den Gang und fassten sie an den Armen. Bestimmt führten sie Melina aus dem Gang zum Schrank. Dort wartete schon Frau Minster, die Bibliothekarin. Mit ernstem Gesicht schritt sie allen voran die Treppe hinunter. Melina wimmerte leise. Ihre Beine gaben beinahe unter ihr nach. Sie wäre gestürzt, hätten die starken Hände sie nicht gehalten.
Der Raum am Fuß der Treppe war in Kerzenlicht gehüllt. Regale voller Bücher standen an den Wänden. Melina bemerkte dies nur aus dem Augenwinkel. Sie wurde auf ein Podest geführt, das in der Mitte des Raumes stand. Das Pentagramm, das darauf gezeichnet war, zog ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich. Die Linien rauchten, verströmten einen süßen Duft, der sie schläfrig machte. Sie versuchte, sich zu wehren, als sie in die Mitte des Zeichens auf die Knie gedrückt wurde. Zitternd kniete sie in dem Rauch, während sich die Menschen, die sie schon so lange kannte, um sie herum im Kreis aufstellten und erneut die Beschwörung anstimmten. Der Rauch wurde stärker, ihre Sinne schwanden und sie hatte das Gefühl zu fallen. Kurz bevor Dunkelheit sie einhüllte, hörte sie noch ein triumphierendes „Es funktioniert!“. Dann war nichts mehr.
Sanfte Hände rüttelten Melina wach, ein Glas wurde ihr an die Lippen gesetzt. Sie schluckte und musste husten, als der scharfe Schnaps in ihrer Kehle brannte.
„Wie geht es Ihnen?“ Der Pastor sah sie freundlich an. Melina drehte den Kopf. Die Bibliothekarin hielt sie im Arm und lächelte erleichtert.
„Was?“ Melina versuchte, sich loszumachen.
„Warten Sie noch einen Moment. Sie sind tatsächlich ohnmächtig geworden. Das war nicht unsere Absicht.“ Frau Minster strich ihr sanft über den Arm.
„Was wollen Sie? Was haben Sie mit mir vor?“, brachte Melina heraus, löste sich aus Frau Minsters Armen und setzte sich auf. Alles drehte sich und rasch griff der Pastor zu und stützte sie.
„Ich schätze mal, das war der Rauch.“ Er nickte. „Es war zu viel Rauch!“
„Aber ohne den Rauch sieht man, was passiert, also brauchen wir so viel Rauch,“ entgegnete der Fleischer bestimmt.
„Ich verstehe nicht.“ Langsam ließ das Schwindelgefühl nach. Melina kam die ganze Situation immer absurder vor. Sie saß im Keller auf dem Boden vor dem Podest. Eine Tür stand an der Seite des Podests offen und sie konnte einen kleinen mit Kissen gefüllten Raum sehen. Langsam verstand sie. Sie war tatsächlich gefallen.
„Wir proben schon seit drei Wochen für das Sommerfest an diesem Trick. Wir überlegen noch, ob wir nur mit Eingeweihten arbeiten oder jemanden aus dem Publikum fragen, ob er assistiert. Es soll dramatisch und auch beängstigend sein. Was denken Sie?“
Fragende Blicke richteten sich auf Melina. Wut stieg in Melina auf. Beängstigend? Sie hatte sich fast zu Tode gefürchtet!
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Autor:Sabine Kalkowski aus Bergkamen | |
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