Kunde in Deutschland
Der Kunde ist König ...

"Der Kunde ist König" ist das unternehmerische Mantra, die unternehmerische Hymne, der heilige Gral und der Schlachtruf des Unternehmertums. Ein bindender Leitfaden, der es einem Unternehmen erst möglich macht, seiner Benennung zu entsprechen …
So weit die theoretische Definition und Interpretation des Slogans, den Harry Gordon Selfridge 1909 quer über die Schaufenster seines Kaufhauses schreiben lies. Hier nun zwei aktuelle Beispiele, wie der deutsche Einzelhandel, das in die Praxis umsetzt.

Mittwoch Vormittag ein namhaftes Bekleidungsfachgeschäft, der gehobenen Klasse, in Soest. „Oh Schatz, schau mal der Rollkragenpulli würde doch super zu meiner neuen Hose passen“, sagte meine Frau enthusiastisch und schon spiegelte sich der klare Kaufwille in ihren tollen blauen Augen. Da wir den Pullover, in der passenden Größe, in der Auslage nicht finden konnten, wollten wir die Verkäuferin um Hilfe bitten. Die war in einem Gespräch mit ihrer Kollegin vertieft. Die erste Reaktion, vollkommene, perfekt inszenierte, stoische Ignoranz. „Entschuldigung, würden Sie uns bitte ...“ weiter kam ich nicht. Sie nahm meine Anwesenheit zwar wahr, aber anstatt ihren Monolog zu unterbrechen und ihrer beruflichen Intention zu folgen, zupfte sie ihrer Kollegin am Ärmel und bewegte sich mit ihr ... von mir weg. „Hallo Verkäuferin!!!“, rief ich laut. Eine Reaktion von ihr, wie auch immer, kam nicht.
Nun, wir Sauerländer haben diverse Möglichkeiten uns bemerkbar zu machen. Ich stöberte gedanklich durch mein Repertoire … Hüsteln, räuspern? Näh, in Zeiten von Corona, keine gute Idee. Wie wäre es mit burschikos, vielleicht laut und stimmungsvoll rülpsen? Wäre die kleine Schwester vom hemmungslosen flatulieren. Beides würde mir, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, die ungeteilte Aufmerksamkeit der Verkäuferin einbringen aber ebenso sicher wäre, der Unmut meiner Gattin. Wie wäre es denn mit so was wie zynischem Humor, gepaart mit nem Häubchen aus Freundlichkeit? Kaum hatte ich mir selbst die Frage gestellt, merkte ich auch schon, wie ich mich dem Verkäuferinnen-Duo näherte und leise den alten Gassenhauer von Peter Alexander anstimmte: „♫♪Kennst du seinen Namen, seinen Namen kennst du nicht. Sieh zu ihm hinüber und dann kennst du sein Gesicht. Hier ist ein Mensch, schick ihn nicht fort, gib ihm die Hand, schenk ihm ein Wort. Kennst du seine Sorgen, weißt du was ihn quält? Schenke ihm Vertrauen, weil er´s dir dann erzählt …♫♪“ Und nun alle: „♫♪Hier ist ein Mensch der will zu dir ...lass ihn nicht stehen, sondern bring ihm Bier ♫♪“
Gut, die letzten drei Worte entsprangen meiner Sauerländer Phantasie, deshalb sang ich sie nicht mehr laut sondern verschluckte sie. Ich wollte ja auch kein Bier, sondern einen Pullover. Obwohl ein Bier … lassen wir das. Missmutig, als wollte ich ihr nen Löffel Lebertran als Delikatesse verkaufen, unterbrach sie ihr Gespräch und hörte sich mein Anliegen an. Kommentarlos, mit nem bösen Guck, verschwand sie im Lager, nur um kurze Zeit später, mit einem anmaßenden Grinsen und einem schnodderigen „Ham wa nich mehr...“ wieder auf der Bühne zu erscheinen. Aber einen hatte ich noch. Der Pullover, war auch kunst,-und stilvoll an eine Schaufensterpuppe drapiert, die im Laden stand und exakt dieser Pulli hatte die passende Größe. Ich kombinierte mein überhebliches Grinsen mit nem Fingerzeig auf die Puppe und dem Satz: „Dieser hier würde passen!“ Die Verkäuferin schaute mich an, als hätte ich sie aufgefordert im Laden zu strippen. Mein, bisher fest verankerter Glaube, dass Kunden für ein Geschäft existentiell und unverzichtbar sind, wurde letztendlich durch den Umstand zerstört, dass sie sich schlicht weg weigerte, die Schaufensterpuppe „nackich“ zu machen. „Die Sachen sind nur zur Ansicht, also unverkäufliche Muster. Ich kann Ihnen den Pulli bestellen. Dauert circa 14 Tage.“ Wir verließen den Laden.

Mittwoch, früher Nachmittag, nur wenige Stunden später. Ich betrete eine Bäckerei am Arnsberger Gutenbergplatz. Verhältnis Kunde zu Mitarbeiter 1 zu 2. Mitarbeiterin eins sieht mich und verschwindet in den hinteren Katakomben der Backstube, holte frische, noch warme Brötchen aus dem Ofen, schob sie hinter die Verkaufstheke und verschwand ... kommentarlos. „Ja bin ich denn im Baumarkt ...“, denk ich und wende mich Mitarbeiterin 2 zu. Noch bevor ich Augenkontakt aufnehmen kann trötet sie: „Ich bin nur für den Cafébereich zuständig.“ Da steh ich nun als Kunde, mit dem klaren Ziel, für Geld Brötchen zu besorgen.
Schon summte ich das Lied, dass ich vormittags in Soest angestimmt hatte. Dann erinnerte ich mich aber an den Appell meiner Frau nachdem wir das Soester Bekleidungsgeschäft verlassen hatten. Sie verbot mir zukünftig solch peinliche Auftritte, egal ob sie dabei war oder nicht. Also was sollte ich denn hier machen, wenn ich nicht trällern durfte? Nun, wir Sauerländer durchaus in der Lage uns verbal Gehör zu verschaffen. Freundlich, ganz wie von Mama gelernt aber so laut dass auch der „Flüchtling“ in der Katakombe mich hören konnte: „Einen wunderschönen guten Tag. Kerokiste, die Brötchen sehen ja ganz famos aus. So knusprig, knackig ... und duften tun die. Davon hätte ich gern vier. Wenn es geht, bitte welche von denen, die sie eben aus dem Ofen geholt haben.“ Schon mal im Wald mit nem Baum geredet? Der ist kommunikativer als dieses Pärchen von Bäckereifachverkäuferinnen. Die eine linste um die Ecke, die andere über ihre monströse Kaffeemaschine und beide schauten mich an, als wäre ich ne Reinkarnation von Hein Blöd. Lassen sie mich einen weiteren Vergleich zum Wald ziehen. Die beiden bewegten sich ebenso emsig wie ein Baum, nämlich gar nicht. Wat denn nu? Doch singen? Steppen oder gar strippen? Ich begann ein Rollenspiel. Wir leben im digitalen Zeitalter also nahm ich das Handy: „Hallo Siri, definier den Begriff Kunde. Siri: Definiere Begriff Kunde: Ein Kunde ist jemand, der eine Ware kaufen oder eine Dienstleistung in Anspruch nehmen möchte und bereit ist, dafür mit Geld zu bezahlen... Danke Siri. Siri. Definier den Begriff Verkäuferin. Siri: Definiere Begriff Verkäuferin: Eine Verkäuferin ist eine Fachkraft, die mit dem Verkauf von Waren und Dienstleistungen betraut ist.“
Ich hatte die gewünschte Aufmerksamkeit. Nun schauten die beiden aber wie ne Henriette Blöd. „Also ihr versierten Mädels des Bäckereifachverkäuferinnenhandwerks...“ sagte ich durchaus freundlich ..., „wie wär´s denn mit ner freundlichen Symbiose zwischen uns. Ich bestelle 4, noch warme, knusprig knackig, frische Brötchen, eine von euch tütet die ein und reicht sie mir. Ich zahle dann dafür, sag freundlich danke und gehe? Dat wäre dann ne glatte 1 in der praktischen Bäckereifachverkäuferinnenprüfung. Also wat is ihr zwei, wollen dat getz ma üben?“
Ich bekam meine Brötchen … wortlos. Ich bedankte mich, wünschte einen tollen Tag und auch das obligatorische „... und bleibt gesund“, gönnte ich den beiden. Dann ging ich mit einem freundlichen: „Ihr seid ein echter Gewinn für die Bäckereifachverkäuferinnenzunft.“ Sie guckten mich an, als wäre ich ne radikale Dragqueen, die im streng katholischen Kirchenkreis, mit lasziven Bewegungen, den Vikar antänzelt.

Was ist los mit dem Verkaufspersonal in Deutschland? Ja, sie werden schlecht bezahlt, nochmal ja, die Arbeitszeiten sind katastrophal und noch mal ja, es gibt auch Kunden, die mit ihren aggressiven Verbalattacken den Eindruck erwecken, als wollten sie dem legendären Wutausbruch von Klaus Kinski am Filmset zu Fitzgarraldo nacheifern. Aber die Verkäufer haben sich den Job doch mal ausgesucht.

Mein eigener Leitfaden war und ist immer schon: „Das was du tust, macht nur dann Spaß, wenn du es mit Spaß tust.“

Autor:

Peter Hesselmann aus Arnsberg

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