" total betroffen "

Sie war eine Dichterin. Oder besser gesagt, sie glaubte wie ein Dichter zu schreiben.
Na ja, vielleicht nicht wie Goethe, aber viel schlechter war sie auch nicht - wie sie vermutlich selber glaubte. Bei ihren Dichterlesungen im „Speicher“ konnte man sich davon überzeugen. Und wenn Hilde las, war ihr Freundeskreis immer dabei. Also an Zeugen fehlte es nicht.
Oft dachte ich:
Warum nur dieser Aufwand? Ihre Freunde hätten auch um einen Kaffeetisch gepasst.
Wenn man dann aber ihre Verse lobte, weil sie, Hilde, so schön reimte, lachte sie verschämt wie eine Frau, der man nur selten Komplimente machte.
Nun gut, ich bin kein Germanist. Aber, dachte ich oft, vielleicht glaubte Frau Hilde auch nur, wie eine Dichterin zu sprechen. Und wenn sie sprach, deklamierte sie und versprühte sozusagen im Brustton der Überzeugung ihr „heidnisches Temperament“.
Dabei war sie, man möge mir diesen Einwand erlauben, in keiner Weise lebhaft.
Kurz, da Hilde ihre Worte immer wieder auf den „lieben Gott in seiner unendlichen Güte“ reimte, musste es ihr an genialer Gottlosigkeit fehlen. Obwohl, ja, obwohl Hilde und ihr Kaffeetisch immer „total betroffen“ waren. Denn ihre, Hildes, selbst gereimten Verse waren ja gut gemeint.
Aber, auch wenn ich kein Germanist bin, sie gaben nichts Anderes wieder, als Hildes Weltanschauung. Und diese Weltanschauung war…na ja, vielleicht hätte da auch ein regelmäßiges Abendgebet gereicht.
Aber so durchzog Hildes Dichtung ein pathetischer Unterton, der oft bedeutungsvoll vibrierte, wenn Hilde wieder einmal ihre Dichterlesung hielt.
Wer aber bereit war von ihren Lippen zu lesen, führte zu den Mahlzeiten bestimmt wieder das Tischgebet ein.

Autor:

Dr. Mathias Knoll aus Arnsberg

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