Neugeboren mit 96

Mein Wunsch halte ich rechtzeitig fest... | Foto: Marita Gerwin
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Wie das Internet unsere Tante rettete...

Tante Sophia, 96 Jahre alt, alleinstehend, fast blind und leicht dement, weiß zwar nicht, was das Internet ist, sie weiß aber, es muss etwas Gutes sein. Denn durch unsere Recherche im Internet hat sie einen Heimplatz, Blindengeld, Pflegestufe I, einen Schwerbehinderten-Ausweis und Hörbücher über die Blindenhörbücherei erhalten.

Warum?
Was war geschehen?

Sophia bewohnte in einer Stadt nach dem Tod ihres Mannes allein eine sog. „Altenwohnung“. Ihre Nichten und Neffen, die in unmittelbarer Nähe lebten, hatten ihr seinerzeit versprochen, sich „im Fall des Falles“ um sie zu kümmern, wenn dies eines Tages mal erforderlich sein sollte. „Das beruhigt mich. Schon der Gedanke, einer anonymen Institution ausgeliefert zu sein, die mich und meine Vorlieben überhaupt nicht kennt, beunruhigt mich. Wenn ich eines Tages mein Schicksal in die Hände eines anderen Menschen legen muss, dann soll es eine Person sein, der ich vertrauen kann“, sagte sie. Dieses Versprechen gab ihr Sicherheit und Zuversicht, dass schon alles irgendwie gut werden wird.

Eine Vorsorgevollmacht und Betreuungsverfügung hatte sie allerdings nicht schriftlich eingerichtet. Als es tatsächlich so weit war, dass sie Hilfe brauchte, waren diese Verwandten “auf und davon“. Sie lehnten es ab, die Betreuung zu übernehmen. Also bekam Sophia eine gesetzliche Berufsbetreuerin durch das Betreuungsgericht zugeteilt, die ihre Interessen wahrnehmen sollte.

Diese Betreuerin gewährte Sophia zwei Stunden Körper-Pflege in der Woche und täglich ein warmes Mittagessen „auf Rädern“. Die persönlichen Kontakte zu ihrer „Klientin“ reduzierte sie auf das Notwendigste.

Sie schien gar nicht zu registrieren, dass Sophia bis auf die Knochen abmagerte und die Wohnung nach und nach verwahrloste. Die alte Dame hatte sich wohl mit ihrem Schicksal abgefunden. Sie arrangierte sich mit dieser desolaten Lebenssituation, so gut sie konnte: Von dem einen Hausbewohner lieh sie sich Brot, weil ihres nicht aufgetaut war; von einem anderen Butter, die sich im Gefrierschrank befand. Daran konnte sie sich aber nicht mehr erinnern. Ein weiterer Hausbewohner bezog ihr das Bett. Elf wohlwollende Nachbarn, alle gebrechlich, halfen ihr, so gut es ging. In drei Räumen waren die Glühbirnen defekt, also war „tasten“ angesagt.

Ein erbärmliches Leben führte sie - von dem wir nichts ahnten. Mein Mann und ich wohnen weiter weg. Wir hielten Kontakt zu ihr per Telefon. Eine Zeit lang ahnten wir nichts von ihrer augenblicklichen Lebenssituation.

Am 96. Geburtstag von Sophia wendete sich alles zum Guten.

Wir besuchten sie – wie jedes Jahr – und fanden sie in einer völlig vermüllten Wohnung vor. Wenn mein Mann (71) und ich (67) nicht so wütend gewesen wären, hätten wir laut geheult. Das war ein Moment, der uns zutiefst berührte. Wir fühlten uns moralisch verpflichtet, die ehrenamtliche Betreuung für unsere Tante Sophia zu übernehmen.

Was ist zu tun?

Für uns gab es nur eins: im Internet recherchieren, wie und wo die Betreuung zu beantragen ist. Schritt für Schritt wurde uns dort aufgezeigt, wie wir vorgehen sollten, mit allen Adressen, Telefonnummern, Ansprech-partnern und Öffnungszeiten. Alles war für uns nun klar und deutlich. Also hin zum Betreuungsgericht, um die ehrenamtliche Betreuung für unsere Tante zu beantragen. Anträge für Blindengeld, Pflegestufe und Schwerbehindertenausweis aus dem Internet herunterladen, ausfüllen und einreichen. Die Krankenkasse von Sophia hat uns dabei tatkräftig unterstützt. Der MDK - der Medizinische Dienst der Krankenkassen - kam schnell zur Begutachtung. Sophia bekam innerhalb weniger Tage einen Heimplatz, Blindengeld, Pflegestufe I und einen Schwerbehindertenausweis. Zusätzlich haben wir eine Begleitperson engagiert, die ganz in ihrer Nähe wohnt, die mehrmals pro Woche mit ihr Spaziergänge und kurze Ausflüge unternimmt. Tante Sophia läuft trotz ihrer 96 Jahre wie ein Wiesel. Darüber hinaus genießt sie jetzt ihre Wohlfühlbäder und Massagen.

„Ich fühle mich wie neu geboren“, erzählt sie uns strahlend.

Seit unserer Pensionierung, die uns wieder mehr Freiraum verschafft, ist es uns möglich, sie wenigstens ein Mal wöchentlich in ihrem neuen Zuhause zu besuchen. Wir genießen die gemeinsame Zeit!

Und übrigens: Die Berufsbetreuerin, die Tante Sophia in so schlimmen Zuständen hat leben lassen, bekam massive Probleme von Seiten der Aufsichtsbehörden.

Ach ja! Da war ja noch was!

Das Internet zeigte uns auch auf, dass es eine Blindenhörbücherei gibt. Dort bestellen wir für Sophia nun kostenlos Hörbücher. Sie staunt nur, was es alles gibt. Sie schwebt im siebten Himmel. „Ich habe keine Ahnung, was das Internet ist, aber dafür habe ich Euch ja. Das habt ihr gut gemacht. Jetzt ist die Sache rund!“ Die Recherche im Internet hat uns geholfen, innerhalb kürzester Zeit die Lebensqualität unserer Tante zu verbessern. „Dem Himmel sei Dank!“

Quelle:
Diesen wichtigen Artikel haben die Eheuleute Karl und Katharina Wagner aus ihrer persönlichen Erfahrung heraus im GenerationenMagazin SICHT- Ausgabe Nr. 58 -Seite 5/ 6 veröffentlicht. Die Online-Ausgabe dieser SICHT finden Sie hier:

http://www.arnsberg.de/zukunft-alter/sicht.pdf

Hinweis der SICHT-Redaktion:

Sophia ist nicht der echte Name der älteren Dame. Er ist der Redaktion bekannt. Es ist eine Geschichte, die tatsächlich in einer Nachbar-Stadt so geschehen ist. Sie wühlt uns auf. Rüttelt uns wach. Zeigt uns auch die wachsenden Grenzsituationen des Alters auf, die uns moralisch verpflichten, in unseren Nachbarschaften und Stadtteilen sorgende Gemeinschaften zu entwickeln. Hin zu schauen. Nicht weg zu schauen. In Notsituationen Verantwortung zu übernehmen, wenn Menschen unserer Hilfe bedürfen.

Dieses Beispiel zeigt, dass es auch bei eingerichteter gesetzlicher Betreuung zu Missständen kommen kann. Wenn sich die betroffenen Personen nicht mehr aus eigener Kraft wehren können, hilft nur die Unterstützung aus der Familie, der Nachbarschaft oder von anderen, die hinsehen und sich einmischen. Uns ist es wichtig zu erwähnen, dass die oben geschilderte Betreuungs-Situation kein Regelfall ist. Viele gesetzliche Betreuer machen einen sehr guten Job!

Wenn Sie Fragen haben, können Sie sich natürlich neben der Internet-Recherche selbstverständlich auch an die Träger unabhängiger Pflege- und Wohnraumberatung in Ihrer Kommune wenden. Dort werden Sie nach Terminabsprache umfassend persönlich und individuell beraten.

Ihr Ansprechpartner für das Stadtgebiet Arnsberg: Hartmut Humpert, Gesundheitsamt des Hochsauerlandkreises, Eichholzstraße 9, 59821 Arnsberg, Tel.: 02931-944000, e-mail: pflegeberatung@hochsauerlandkreis.de

Oder Sie schalten die kommunale Betreuungsbehörde Ihrer Stadt ein.

Ihr Ansprechpartner in der Betreuungsbehörde in Arnsberg ist Franz Dröppelmann, Tel.: 02922 - 868471, e-mail: wendepunkt@arnsberg.de

Wie Sie rechtzeitig vorsorgen und ihre Zukunft selbst gestalten, lesen Sie hier:

http://www.arnsberg.de/familie/vorsorge/index.php

http://www.arnsberg.de/familie/vorsorge/flyer.pdf

Autor:

Marita Gerwin aus Arnsberg

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