"Nestbeschmutzer"

Die Mutter hatte viele Verehrer. Allgemein hieß es, sie sei eine sehr attraktive Frau gewesen. Und energisch war sie auch.
Ihr Mund war fleischig und die Oberlippe herzförmig. Der Mund war geschminkt. Die großen Augen und die Wimpern waren getuscht. Sie lächelte und das Lächeln war ihr eine Selbstverständlichkeit.
Aber deshalb war die Mutter lebenslang die Gefangene ihrer Scheinwelt.
Auch ohne Käfig war sie nur „frei“.
Sie war keine Frau der festen Überzeugungen. Da konnte man schnell seine Ansichten wechseln. Aber die Sprache hatte sie längst im Griff.
Der Mensch schützt sich vor den Banalitäten, wenn er aufhört sie wahrzunehmen. Denn die Belanglosigkeiten haben einen behaglichen Nebeneffekt - die Mutter war charmant.
Da könnte ein ironisch-plauderhafter Tonfall nur störend wirken. Aber sie ließ sich nicht die Butter vom Brot nehmen und schon gar nicht die Wurst.
So oder so spielte die Mutter die Rolle der „heilen Welt“, als sei die „Realität“ realer, als die wahre Wirklichkeit. Und diese Rolle spielte sie mit einer eisernen Disziplin.
Gelegentlich konnte die Mutter dieser Art von Unklammerung entkommen, wenn sie „menschliche Gewohnheiten“ annahm.
Aber im Grunde liebte die Mutter nicht die Veränderungen, die über den häuslichen Bereich hinausgingen. Da war der Sättigungsgrad ihrer Neugierde erschöpft. Eine Tonspur zu immer gleichen Bildern, das gefielt ihr.
Nicht, dass die Mutter an sich gezweifelt hätte!
Und wenn, dann begab sie sich in Gefahr, dass auch die Anderen an ihr zweifelten. Dann sagte die Mutter:
„Frag mich, was du willst, aber nicht dies…“ und dann war sie stumm wie eine unberührbare Ikone.
Also, die „Welten“ standen dazwischen.
Und wenn man die Mutter fragte, dann antwortete sie in einer gefährlichen Vereinfachung im Sinne von: „weiß“ und „schwarz“. Nur, sie hatte die „Ordnung“ begriffen.
Ja, man könnte sagen, starke Mütter haben den Hang, den Willen zur „Ordnung“.
Aber eigentlich hätte man die Energie der Mutter, allein schon wegen der „Wahrheit“ und des „Recht- Habens müssen“, in einen anderen Körper versetzen müssen.
„Mich kann nichts aus der Fassung bringen!“, sagte sie zu oft.
Eigentlich schade! dachte er, ihr Sohn. Es ist doch lächerlich, dass ich in meinem Alter um ihre Anerkennung kämpfe:
„Nestbeschmutzer“- war der leise Vorwurf, den sie unter der Rubrik: „schwarz“ einordnen musste. Nicht, dass die Mutter das Wort „Nestbeschmutzer“ aussprechen würde - dazu lächelte sie alles weg, was ihrem Ordnungssinn zuwider gelaufen wäre.
Oder sie schwieg.
Aber der leise Vorwurf war trotzdem zu hören.

Autor:

Dr. Mathias Knoll aus Arnsberg

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